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Kultur: Saat gut

Artgerechte Tierhaltung, giftfreie Lebensmittel gibt es schon lange in Deutschland. Die Befürworter waren Spinner. Jetzt sind es Boomer

Sie habe den ultimativen Tipp bekommen, erzählte kürzlich eine Freundin, die das Alleinsein satthat: Der große Bioladen in Kreuzberg ist die Partnerbörse! Von wegen Schmuddelpapas mit Wollpulli und Bart, richtig gut aussehende Menschen aller Altersklassen versammelten sich hier zum kollektiven Einkauf von pestizidfreien Gemüsesorten und Hackfleisch von glücklichen Kühen, die den ganzen Tag auf der Weide grasen dürfen. Erkennungszeichen Jutebeutel gilt hier längst nicht mehr. Die Biokunden von heute heißen laut Marketingforschern LOHAS und folgen einem „Lifestyle of Health and Sustainability“.

Plötzlich passt zum allgemeinen Gesundheitsbewusstsein urbaner Menschen, was viele Jahre vermeintlich genussfeindlichen „Ökos“ mit Landkommunenzwang zugesprochen wurde. Nachdem die Umsätze im Ökomarkt aufgrund der allgemeinen Rezession Anfang des Millenniums eingebrochen waren, expandiert die Nachfrage seit ein paar Jahren derart, dass es zu Lieferengpässen bei Biomilch, -kartoffeln und -fleisch kam. Besonders wichtig ist den Deutschen der Tierschutz. Laut einer Konsumentenumfrage, die vom Forschungsinstitut für biologischen Landbau veröffentlicht wurde, ist für etwa 30 Prozent das Argument „Besser für die Tiere“ der wichtigste Grund, zu Biokost zu greifen. Damit stehen sie im internationalen Vergleich ziemlich alleine da. In Amerika wollen nur 12 Prozent den Tieren zu einem artgerechteren Leben verhelfen, aber knapp 60 Prozent etwas für ihre eigene Gesundheit tun. Im europäischen Vergleich liegen wir weit vorne. Kein anderes Volk kauft mehr Bioartikel: 28 Prozent des Absatzmarktes verteilen sich auf die Deutschen.

Gut essen und gesund leben – diese Idee war noch vor hundert Jahren kaum mit einem Dasein in der Großstadt vereinbar. Berlins Einwohnerzahl war im Laufe des 19. Jahrhunderts wie in allen entstehenden Industriezentren rasant angewachsen. Die Menschen lebten in dunklen und feuchten Mietskasernen, die erst „trocken“ gewohnt werden mussten, unter erbärmlichen Bedingungen. Mangelernährung und Krankheiten griffen um sich. Besserverdienende, die es sich leisten konnten, zogen aufs Land und fuhren nur zur Arbeit in die Stadt. Wer sich die teure Mobilität nicht leisten konnte, blieb im großstädtischen Moloch gefangen. An ein eigenes Stück Land war für die meisten nicht zu denken.

Mit dem Ideal, möglichst vielen Menschen ein selbstbestimmtes Leben aus dem eigenen Garten zu ermöglichen, fanden sich 1893 einige bürgerliche Familien um den Fabrikantensohn Bruno Wilhelmi zusammen. Inspiriert von den Ideen der Lebensreform, die sich eine Rückkehr zur Harmonie des Menschen mit der Natur zum Ziel gesetzt hatte, gründeten sie bei Oranienburg die Vegetarierkolonie „Eden“. Hier sollte das himmlische Paradies als Obstbau-Genossenschaft schon auf Erden Wirklichkeit werden. „Zurück, o Mensch, zur Mutter Erde“, rief Bewohner Karl Bartes in seinem Festgedicht „Eden“ aus. Von Landwirtschaft verstanden die Initiatoren nicht viel, hatten sie doch Kaufmann, Arzt oder Journalist gelernt. Der Wille, den Menschen in seinen Lebensformen zu „veredeln“ und durch „Selbsterziehung“ ein gutes Beispiel zu geben, bestimmte die Gemeinschaft. Dazu gehörte der Verzicht auf Alkohol und Tabak. Von dem zu Zeiten des Nahrungsmangels exzentrisch erscheinenden Ideal des Vegetarismus trennte man sich bald wieder, um mehr Menschen für das Gemeinschaftsprojekt überzeugen zu können.

Durch die Vergabe von Erbbauverträgen, die an die nächste Generation weitergegeben werden konnten, blieb das Land vor Spekulanten bewahrt. Das Experiment funktionierte. 1914 standen bereits 80 Häuser, 1923 waren aus den anfänglich 17 Familien 450 Mitglieder geworden. Man gründete eine eigene reformpädagogische Grundschule und pflegte die Freikörperkultur. Mit dieser offenkundigen Lebensfreude konnten die Eingesessenen nur schwer umgehen. Ingmar Engelmann, der 1938 in Eden geboren wurde, erinnert sich noch heute gut daran, wie die Oranienburger Mitschüler auf der Oberschule ihn als „Krautfresser“ oder „einen von der vereinigten Marmeladenrepublik“ verhöhnten.

Eden vermarktete Obst, Säfte und Marmeladen. Mit Erfindungen wie „Pflanzenfleisch“ oder „Eden-Reformbutter“, der ersten rein pflanzlichen Margarine, machte man sich in den neu entstandenen „neuform“-Warenhäusern, die ebenfalls genossenschaftlich organisiert waren, einen Namen und stieg so nach dem Ersten Weltkrieg zu einem der größten Reformwarenhersteller in Deutschland auf. Mit Ökologie hatten die Edener anfangs wenig im Sinn. Die sandigen Böden, die man billig erstanden hatte, waren nährstoffarm und wurden deshalb auch künstlich gedüngt, um die Erträge zu steigern. Als Selbstversorger achtete man aber auf einen gemäßigten Einsatz. Eine „naturgemäße Lebensweise“ blieb oberste Maxime von den frühen Verfechtern des biologischen Landbaus, die ihre Kenntnisse in Fachzeitschriften verbreiteten.

Die Idee des ökologischen Anbaus, der vollends auf chemischen Dünger verzichtete, kam erst in den zwanziger Jahren auf. Die Landwirtschaft, die auf das Bevölkerungswachstum reagieren musste, wurde zunehmend technisiert. Der Einsatz von künstlichem Stickstoffdünger wirkte sich negativ auf die Qualität der Nahrungsmittel aus. Rudolf Steiner entwarf im Rahmen seiner Anthroposophie Kriterien für eine biodynamische Landwirtschaft, die sich für ein ganzheitliches Verständnis von Natur, Umwelt und Nutzung aussprach. Monokulturen wurden abgelehnt. Stattdessen plädierte man für die Förderung und Erhaltung einer dauerhaften Fruchtbarkeit der Böden durch den Einsatz natürlicher Düngemethoden wie Kompost oder Mist.

1928 erwarb der Steiner-Schüler Erhard Bartsch den Hof Marienhöhe am Scharmützelsee in Bad Saarow und gründete hier den ersten biodynamischen Betrieb in Deutschland. Bereits 1931 existierten weltweit 1000 Höfe, die biologisch-dynamisch bewirtschaftet wurden. Die Produkte wurden unter dem Namen „Demeter“ vermarktet. Die Nationalsozialisten, besonders Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß, bedienten sich der landwirtschaftlichen Experimente und versuchen mithilfe von Bartsch, die Wirksamkeit biologisch-dynamischer Vorgehensweise an der Deutschen Versuchsanstalt für Ernährung und Verpflegung zu beweisen. Nach der Gefangennahme von Heß 1941 in England bricht der gute Kontakt zum Terrorregime ab. Nicht dass die Nazis ideologische Probleme mit der biodynamischen Schule gehabte hätten, in den Gärten des Konzentrationslagers Dachau wurde unter der Regie von SS-Führer Heinrich Himmler kräftig weiter biodynamisch gewerkelt. Aber eine unabhängige Organisation, nein, die wurde nicht geduldet. Alle Demeter-Organisationen wurden verboten.

Dabei gab es umgekehrt kaum Berührungsängste. Viele Edener begeisterten sich für die Nationalsozialisten. Dass Hitler Vegetarier war, bestätigte sie in ihrer Lebenseinstellung. Ihr Ideal, Grund und Boden an die Menschen gerechter zu verteilen, sahen sie im Programm der Nazis verwirklicht. Dass das Angebot nur für „Arier“ galt, schien sie nicht zu stören. Im Gegenteil: Die jüdische Familie Wolf wurde aus der Genossenschaft ausgeschlossen, ihrer Deportation stellte sich keiner in den Weg. Doch trotz ihres faschistischen Geschäftsführers war die Gemeinschaft politisch nicht einheitlich. Einige versteckten Flüchtlinge aus dem naheliegenden KZ Sachsenhausen.

Die Siedlung Eden hat genau wie der Hof Marienhöhe, wo noch immer biodynamische Landwirtschaft betrieben wird, auch die DDR überlebt. Leicht hat man es ihnen auch aus Misstrauen gegenüber ihren politischen Verirrungen nicht gemacht. Ihren einst so erfolgreichen Warennamen mussten die Edener verkaufen. Der Erlös wurde in neue Projekte wie Kindergarten und Renovierung der baufälligen Häuser gesteckt. Noch immer wohnen 1500 Menschen in Eden, aber aus dem eigenen Garten leben die wenigsten. Und um an Mieteinnahmen zu gelangen, vergab die Genossenschaft ein Gebäude ausgerechnet an ein Steakhaus.

Die Ökobewegung, die in den siebziger Jahren in der Bundesrepublik entstand, positionierte sich politisch eindeutig links. Mit der Vaterlandsliebe ihrer Vorläufer konnte man nichts anfangen. Gleichzeitig stieß man auf ähnliche Probleme, denn die vom Hippie-Dasein inspirierten Aussteiger waren wie die Lebensreformer auch meist Städter, die keine Ahnung von Landwirtschaft hatten. Das Leben auf dem Dorf und die harte Arbeit auf dem Feld waren ihnen fremd. In Erfahrungsberichten kann man nachlesen, wie die anfängliche Begeisterung schnell in Frust umschlug. So ist in der Zeitschrift „LPG Info“ von 1976 zu lesen: „Bei unserem Auszug aus der Stadt waren wir seinerzeit mit vielen anderen der Meinung, dass uns erst das freie Landleben, das geruhsame Gärtnern, etwas Holzen, Beeren- und Kräutersammeln vielleicht glücklich machen könnten. Bei all dem wollten wir möglichst ohne Maschinen auskommen, Serienarbeit war uns ein rotes bzw. schwarzes Tuch, wie wir einer generellen Industriefeindlichkeit huldigten. Die Praxis des geruhsamen Landlebens drückte sich dann sehr bald in einem 10- bis 15-stündigen Arbeitstag aus.“

Nur wenige Gruppen haben diese Ernüchterung überlebt und sich wieder in ein städtisches Umfeld und theoretische Bastionen zurückgezogen. Und beim Rest ist die Politik in den Hintergrund getreten. Tatsächlich fühlen sich nur noch wenige Fürsprecher der ökologischen Landwirtschaft linken Ideen verpflichtet. Auch Markus Schmidt, der seit 1998 im brandenburgischen Ogrosen einen biolologischen Gemüsehof betreibt, ist eher der pragmatische Typ. Aufgewachsen in den achtziger Jahren im bürgerlichen Zehlendorf, kam er erst spät mit ökologischer Landwirtschaft in Kontakt. Während seines Geografiestudiums absolvierte er ein Praktikum auf dem Hof von Heiner Lütke Schwienhorst und entschied sich dann für eine Gärtnerlehre.

Der gelernte Landwirt hat nach der Wende angefangen, den ehemaligen Gutshof seiner Schwiegereltern, den sie von der Treuhand zurückkauften, ökologisch zu bewirtschaften. Lütke Schwienhorst ist mit seinen Überzeugungen von der Landbevölkerung im Spreewald positiv aufgenommen worden. „Dass sich konventionelle und Ökolandwirte erbittert gegenüberstehen, ist eine westdeutsche Erfindung“, meint er, „hier wusste man doch gar nicht, was das ist.“ Vorurteile hätten also keine Basis, was allerdings durchaus auch eine sehr exklusive Einzelerfahrung sein kann.

Mit einst 300 Hektar landwirtschaftlicher Fläche und 100 Hektar Wald war das Areal zu groß für einen Familienbetrieb, der zu DDR-Zeiten in eine LPG umgewandelt worden war. Zusätzliche Ställe waren so entstanden und boten nun Raum für Mitstreiter, die sich für die Idee des neuen Gutsherrn, eine möglichst vielfältige Höfegemeinschaft aufzubauen, begeistern konnten. Inzwischen gehören zur Erdreich GbR neben Ackerbau und Kuhmilchproduktion auch eine Milchschafhaltung, Schweine und eine Ziegenherde. Markus Schmidt hat mit einem Kompagnon Uwe Nuding die ehemaligen Schweineställe zu einem Wohnhaus umgebaut. Inzwischen beschäftigen sie zwei Angestellte und eine Auszubildende.

Alle vier Betriebe arbeiten nach den Richtlinien des ökologischen Anbauverbandes Gäa, der strengere Auflagen als die EU-Ökoverordnung verfolgt. So dürfen viele Neuzüchtungen, die Pflanzen widerstandsfähiger und ertragreicher machen, nicht verwendet werden. Außerdem achtet man auf Landschaftsschutz sowie zusätzlich soziale Gerechtigkeit bei den Angestellten. Vielleicht sind sie bei ihrer Rückkehr deswegen so herzlich willkommen geheißen worden. In anderen Dörfern wurden ehemalige Gutsbesitzer mit schwingenden Heugabeln in Empfang genommen.

Seine Zukunft sieht Heiner Lütke Schwienhorst positiv, obwohl es ihn oft ärgert, dass die Einkäufer der Lebensmittelketten nur auf den Preis achten und sich um die tatsächlichen Produktionsbedingungen kaum kümmern. Mit der geplanten Neuregelung der EU-Ökorichtlinie könnte der Druck noch steigen, denn die Einfuhr von Ökoprodukten aus Nicht-EU-Ländern soll erleichtert werden. Kontrolliert werden dann nur noch die Fertigprodukte. Zu erwarten ist, dass sich der Biomarkt aufteilt in ein Angebot billigerer Produkte, bei denen CO2-Bilanz, Haltung der Tiere und Anbaumethoden keine Rolle spielen, und einen teureren Premiumbereich, der den unabhängigen Verbänden mit ihren strengen Auflagen vorbehalten bleibt. Markus Schmidt wäre von den Veränderungen weniger betroffen, weil er seine Kunden ohnehin direkt beliefert, und die legen wert darauf, zu wissen, woher ihr Gemüse stammt. Einmal in der Woche fahren sie in die umliegenden Dörfer, nach Cottbus und Berlin und bringen ihre individuell zusammengestellten Kisten direkt an die Haustür.

Die ganzheitliche Sicht auf ein harmonisches Zusammenleben von Mensch und Natur, die alten Traditionen der deutschen Lebensreform, findet auch heute noch ihre Anhänger. Anika Müller, die seit ein paar Monaten auf Schmidts Hof arbeitet, weiß aus ihrem Landwirtschaftsstudium an der Humboldt-Universität, dass die Szene von Kommune-Bewegten noch immer groß ist. Sie selbst hat die Erfahrung gemacht, dass es ihr nichts ausmacht, um sieben auf dem Acker zu stehen und erst um sechs Uhr abends den Tag zu beschließen. Was sie dabei verdient, reicht gerade so zum Leben. „Dieses ganze System, Geld zu besorgen, um Essen zu kaufen und Miete zu bezahlen, stresst mich“, sagt sie. Missionarische Ansprüche quälen sie dabei nicht. Die Lebensbedingungen, die sie sich ausgesucht hat, gelten allein für sie. Dabei schöpft sie aus Erfahrungen, die sie in ihren Studienzeiten in einer Berliner Achter-WG gesammelt hat. Die alten familiären Strukturen, die das Leben auf dem Land früher geprägt haben, greifen hier nicht mehr, Hippie-Ideale wirken fehl am Platz. „Auch das Miteinander braucht Pflege“, resümiert sie, „gerade wenn niemand mehr einen Kommunen-Anspruch hat.“ Und plötzlich ahnt man, dass ökologische Lebensweise viel mehr bedeuten kann, als in einen ungespritzten Apfel zu beißen.

Rebecca Menzel

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