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Kultur: "Saatchi-Skandal": Der Balken

Sag der Polizei nicht, was sie in der National Gallery sehen könnte! schreibt ein britisches Blatt über den "Saatchi-Skandal".

Sag der Polizei nicht, was sie in der National Gallery sehen könnte! schreibt ein britisches Blatt über den "Saatchi-Skandal". In London ist das "obscene publications unit" von Scotland Yard in der Saatchi Gallery für moderne Kunst aufgekreuzt, um Bilder der Ausstellung "I am a camera" zu verbieten. Die renommierte Galerie soll einige Werke abhängen, sonst werde die Ausstellung geschlossen. Diese genießt einstweilen ungeahnte Prominenz. Auf Farbaufnahmen der Künstlerin Tierney Gearon sind deren beide vorpubertären Kinder zu sehen: Nackt an einem Strand, mit Masken vor den Gesichtern, findet der Betrachter das Mädchen und den Jungen, oder den Jungen, wie er in den Schnee pinkelt. Die Ästhetik der Werke ist von nüchterner Distanz, die zur Ausgelassenheit der Kinder in Kontrast steht. Es sind wohl nicht die wichtigsten Werke des 21. Jahrhunderts, aber eindeutig Kunstwerke.

Zwei ganze Monate nach der Eröffnung von "I am a camera" sah zuerst "News of the World", was nun auch seine Leser sehen wollen: Kinderpornographie. Dem Revolverblatt gelang es, aus Ferienfotos Pornos zu machen: Die Bilder wurden mit Balken vor den Intimregionen versehen und wirken "dadurch erst dreckig", wie die aufgebrachte Fotografin und Mutter im "Independent" schreibt. Konfrontiert mit einer 50er-Jahre-Diskussion, der die Kunstkritik ungläubig folgt, erinnern Feuilletons, Leitartikel, ja Titelseiten der seriösen Presse an das Arsenal der Unbekleideten in der Kunst - von Rokoko-Putten bis zu Lewis Carrolls Fantasien und Nabokovs "Lolita". Keiner "Leda mit dem Schwan" - dem ja nur das finale "z" fehlt - kann man heute noch mit Polizei kommen. Verdächtigt, verurteilt, freigesprochen, verabschiedet sind solche altbackenen Debatten. Mit Nackten lässt sich eigentlich kein Skandal mehr machen. So hatte die Saatchi Gallery unerhörtes Glück, dass ein reaktionärer Substrom sie berührt. Trotz allem lohnt es sich, aufzugreifen, was einer der Verteidiger der Freiheit im "Guardian" schreibt. Mark Lawson gibt zu bedenken, dass Kinder von Künstlern, wenn sie in deren Werken auftauchen, auf gewisse Weise missbraucht werden. Vielleicht sehen sie Bilder oder Texte später mit einem Gefühl von Preisgegebenwerden, das sie in der Kindheit nicht erkannten. Unlösbares Dilemma: Künstler müssen alles spiegeln, was die Gesellschaft bewegt. Sie müssen alles gebrauchen dürfen, als Material ihrer Bilder, Romane, Theaterstcke. Wo die Grenze zum Missbrauchen - von Freunden, Verwandten, Intimitäten - verläuft, das liegt im Ermessen der Künstler selbst und der Gesellschaft, die ihr Werk als Kunst akzeptiert. Da ist im Doppelsinn ein Prozess am Werk, dessen Regeln ununterbrochen neu ausgehandelt werden.

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