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Schatten spüren. Marianne Crebassa (l.) als Charlotte mit ihre Mutter (Geraldine Chauvet).

© REUTERS

Salzburger Festspiele: Was es zum Leben braucht

Ihre Flucht vor den Nazis endete in Auschwitz. Aber davor schuf die Malerin Charlotte Salomon ein fiebriges Werk. Marc-André Dalbavie hat eine Oper über ihr Leben geschrieben, die jetzt bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt wurde.

Musik ist ein sinnlicher Speicher für unsere Erinnerungen, ja, sie erinnert uns sogar an Dinge, die wir vergessen glaubten. Ein Lied, eine Arie, ein Schlager kann Ausschnitte unserer Biografie für uns aufbewahren. Musik weiß mitunter besser, wer wir sind, als es uns selbst zugänglich ist. Wer trennt sich schon von seinen Lieblingsaufnahmen? Charlotte Salomon, die 1939 keine 22 Jahre alt aus Berlin fliehen muss, packt in aller Eile Schallplatten in ihren Koffer. Auf einigen singt ihre gefeierte Stiefmutter, die Mezzosopranistin Paula Lindberg-Salomon. Carmens „Habanera“ kommt mit auf die Flucht und etwas Malzeug, als die junge Kunststudentin ihre Heimat in Charlottenburgs jüdischem Bildungsbürgertum verlassen muss und zu den Großeltern nach Südfrankreich ins Exil geht.

Nach dem Selbstmord der Großmutter aus Furcht vor den heranrückenden deutschen Truppen schafft Charlotte in Villefranche-sur-Mer aus einer existenziellen Krise in kurzer Zeit ein eigenwilliges, leuchtendes Werk mit Zeichnungen, musikalischen Verweisen und biografischen Notizen. „Leben? Oder Theater?“, heute aufbewahrt im Jüdischen Museum Amsterdam, macht sie nun zur Titelfigur einer Salzburger Uraufführung. Der französische Komponist Marc-André Dalbavie stellt damit das erste Auftragswerk des scheidenden Intendanten Alexander Pereira vor. Es ist seine zweite Oper nach „Gesualdo“ für das Zürcher Opernhaus. Bereits dort hatte er Musik des porträtierten Renaissance-Komponisten in sein Werk einfließen lassen. Dalbavie ist kein ängstlicher, auf Abgeschlossenheit zielender Musiker. Das Eigenleben der Klänge stellt keine Bedrohung für ihn dar, ist vielmehr Voraussetzung seiner Kunst. Das passt zu einer Oper, in deren Mitte ein biografischer Findungsprozess mit Musik steht.

Sie singt, malt und schreibt um ihr Leben

Ausgelöst wird Charlottes Suche durch die Bedrohung ihres Lebens von zwei Seiten: als junge Jüdin in unsicherem Exil und als junge Frau, die nach dem Tod der Großmutter erfährt, dass sich alle weiblichen Vorfahren das Leben nahmen, auch ihre leibliche Mutter. Charlotte spürt Schatten über sich kommen – und singt, malt und schreibt um ihr Leben. In farbsatten Gouachen ordnet sie ihre Vergangenheit neu, gibt dem Personal neue Namen und sich selbst auch: Charlotte Kann. Und sie kann: Mit eindeutiger Berliner Schnauze die Liebe und Eifersucht zur Stiefmutter (Paulinka Bimbam getauft) fassen, die überhöhte Dreiecksromanze mit dem Gesangslehrer Amadeus Daberlohn, die Verdrängung von der Kunstschule, die Depression der Frauen.

Mit „Leben? Oder Theater?“ schafft Charlotte Salomon eine Privatinszenierung, in der sie sich selbst erkennen kann. Und entscheidet sich für das Leben. Sie heiratet, wird schwanger. Doch dann wird sie denunziert, verhaftet und deportiert. Als ihr Transport Auschwitz-Birkenau erreicht, wird Charlotte Salomon, 26 Jahre alt, noch am selben Tag ermordet. Ihr „Singespiel“, mit seinen ungestümen, oft sarkastischen Musik-Bild- Text-Collagen, überlebt. Es stellt den Komponisten und seinen Uraufführungsregisseur Luc Bondy vor schwierige Entscheidungen: Wie sehr darf dieses Emanzipationskunstwerk einer jungen Frau vor dem Hintergrund ihrer späteren Ermordung gesehen werden? In der gewaltigen Felsenreitschule ringt das Team bis zuletzt um eine Justierung, stellt um, verwirft, um den zarten Lebensfaden, aus Kunst geknüpft, glaubhaft und kraftvoll leuchten zu lassen. Dabei erweist sich die oft abgegriffene Aufspaltung der Hauptfigur als schlüssiges Mittel – nicht nur, weil Charlotte sie selbst so angelegt hat, um ihr Leben beobachten zu können, sondern, weil das Salzburger Doppel hinreißend harmoniert: Burgschauspielerin Johanna Wokalek als sprechende Charlotte mit leicht ruppiger Zärtlichkeit und die gleich timbrierte Marianne Crebassa, die eine herrlich trotzige, jungenhafte Charlotte singt. Dass in der Aufführung Deutsch und Französisch durcheinanderpurzeln, liegt weniger daran, dass hier auch noch die Sprache des Exils eingeschrieben werden sollte. Vielmehr waren die französischen Sänger bereits gebucht, Dalbavie komponiert lieber in seiner Muttersprache.

Was sein eigener Tonfall ist, lässt sich nur schwer heraushören, anfangs ist es schier unmöglich. Hier folgen so dicht gedrängt Zitate von Mendelssohn, den Comedian Harmonists, Bizet, Bach und Schubert, dass zwar ein Eindruck vom musikalischen Horizont im Hause Salomon entsteht, aber kein Zutrauen in die Führungsstärke des Komponisten. Am Pult des Mozarteum-Orchesters geht Dalbavie merkwürdigerweise selten daran, durch Charlotte Vorgefundenes zu übermalen – eine Technik, die gut zu ihrem Schaffen gepasst hätte. Stattdessen setzt er auf einen Baukasten von Klangaufschlüsselungen, die zwar allesamt schön klingen, manchmal gar wundersam aufleuchten, den Abend strukturell aber wenig voranbringen.

Diese Last liegt vor allem auf den Schultern von Luc Bondy, der erstmals seit 1996 wieder in Salzburg inszeniert und sein Debüt in der Felsenreitschule gibt. Deren archaisch-düstere Raumlast hat er komplett ausblenden und sich von Bühnenbildner Johannes Schütz eine breit fließende Folge von Salons zimmern lassen. Hier lässt er Szenen parallel spielen, sortiert Auftritte, arrangiert Tableaus. Sorgfältig ist das, dienend, Raum gebend für die Projektionen von Charlotte Salomons Bildern. Zupackend ist es nicht – und beim unnötig abgesetzten, den schwachen Spielfluss weiter hemmenden Nachwort beinahe klamm. So klammert man sich an Johanna Wokaleks widerständige Lust, wie sie am Meer sitzt, singt, malt. „Leben? Oder Theater?“ Das Leben, natürlich. Und alles, was es dazu braucht.

Weitere Aufführungen am 2., 7., 10. und 14. August. Charlotte Salomons Werk ist im Internet zu sehen: www.jhm.nl/collection/specials/charlotte-salomon

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