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Cover der Sammlung "Begegnungen mit Benjamin"

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Sammlung "Begegnungen mit Benjamin": Ansichten eines Jahrhundertgeists

Über Leben und Werk von Walter Benjamin gab es zuletzt wenig neue Veröffentlichungen. Das ändert sich mit Erdmut Wizislas Sammlung "Begegnungen mit Benjamin".

Er war eine der auratischsten Figuren der deutschen, ja europäischen Intellektuellenszene des 20. Jahrhunderts. Trotzdem ist über seine Schriften hinaus wenig Persönliches von ihm überliefert. Walter Benjamin, 1892 im damals noch nicht nach Berlin eingemeindeten Charlottenburg geboren, hatte sich am Abend des 26. Septembers 1940 in Port Bou an der französisch-spanischen Grenze auf der Flucht vor den Nazis das Leben genommen.

Verloren gegangen ist damals eine von Augenzeugen beschriebene Aktentasche, in der Benjamin vermutlich noch Manuskripte mit sich führte, vielleicht weitere Notizen zu seinem legendären, Fragment gebliebenen geschichtsphilosophischen „Passagen-Werk“. Überhaupt finden sich in dem aus dem Frankfurter Adorno-Archiv ausgegliederten, seit 2004 von der Berliner Akademie der Künste verwalteten Walter-Benjamin-Archiv außer den rund 12 000 Blatt Manuskripten, Briefen, Fotos und Notizbüchern keine unmittelbaren Zeugnisse.

Benjamin, der jüdische Bildungsbürgersohn, war auf der kulturellen, intellektuellen Szene Berlins zur Zeit der Weimarer Republik ein besonderer Star. Kein Berufsakademiker, eher ein (etwas menschenscheuer) Flaneur, ein Mann mit Einfluss, der auch im Rundfunk sprach, ein Freund des jungen Adorno, von Gershom Scholem und der jungen Hannah Arendt. Brecht wurde durch Benjamin vom poetischen Anarchisten zum dialektischen Denker. Aber: Es gibt keine einzige Filmaufnahme und in den Rundfunkarchiven bisher kein Tondokument von WB. Wir kennen nicht die Stimme des Hochberedten und haben nur ein paar Bilder; auf einer Aufnahme der großen Fotografin Gisèle Freund scheint er immerhin fast zu lächeln: der sonst so ernst-gefasste oder gar melancholische Autor des „Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, des „Ursprungs des deutschen Trauerspiels“ oder der „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“

Walter Benjamin hat als undogmatischer Linker den Wind des Fortschritts auch als Gegenwind begriffen, sah das Scheitern als letzte Chance, hat Gedichte geschrieben, wunderbar übersetzt (erstmals Teile der Proust’schen „Recherche“ oder Baudelaire), erkannte früh Kafkas Genie, entwickelte eine ästhetisch-soziologische Theorie der Fotografie und dachte nach über Haschisch. In seinem Leben gab es drei Frauen, weil „drei verschiedene Männer in mir (sind)“, und seinen Kern findet man womöglich in einer Notiz zu Andrea de Pisanos spätmittelalterlichem Reliefbild der „spes“, der Hoffnung, an einem Portal des Baptisteriums beim Dom von Florenz: „Sie sitzt und hilflos erhebt sie die Arme nach einer Frucht, die ihr unerreichbar bleibt. Dennoch ist sie geflügelt. Nichts ist wahrer.“

Seit 2008 erscheint nun die am Ende 21 Bände umfassende Benjamin-Gesamtausgabe bei Suhrkamp, nebst vielen Einzeleditionen. Merkwürdigerweise aber gibt es seit Werner Fulds Benjamin-Biografie aus den 1970ern keine große, wirklich angemessene Darstellung von Leben und Werk. Und mit Stéphane Hessel, dem Sohn des Berliner Benjamin-Freundes Franz Hessel, ist vor zwei Jahren der letzte Zeuge verstorben, der Benjamin noch leibhaftig erlebt hat.

Umso mehr ist zu rühmen, dass Erdmut Wizisla, verdienstvoller Leiter des Berliner Brecht- und auch Benjamin-Archivs, jetzt den schönen Band „Begegnungen mit Walter Benjamin“ (Lehmstedt-Verlag, Leipzig, 400 Seiten, 24,90 €) herausgegeben hat, versehen mit einer vorzüglichen Einleitung und klugen, kurzen Kommentaren.

Wizisla hat 39 Texte von 33 Autoren versammelt. Darunter ist für Kenner manch Bekanntes, von Adorno, Brecht, Hannah Arendt oder der leider erfolglosen Fluchthelferin Lisa Fittko. Aber auch fast Unbekanntes: etwa hochinteressante (oft kritische) Schilderungen von Benjamins Schulfreund Herbert W. Belmore, erhellende Briefe der bis heute wenig bekannten Witwe (und ehemaligen Journalistin) Dora Sophie Benjamin oder eindrucksvolle Nahaufnahmen des französischen Schriftstellers Jean Selz, der 1932/33 längere Zeit mit Benjamin auf Ibiza verbrachte. So wird er plötzlich lebendig, ein toller Jahrhundertgeist und Mensch in seinem Widerspruch.

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