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Santigold: Die Herrin der Fliegen

Mitreißender Mix der Stile: Die Sängerin Santigold und ihr Album „Master Of My Make-Believe“. Unterstützt wurde die New Yorkerin von namhaften Kollegen wie Q-Tip, Diplo, Switch, Karen O. und Nick Zinner von den Yeah Yeah Yeahs sowie David Sitek von TV On The Radio.

Die Pop-Welt des Digitalzeitalters ist in einem hysterischen Geschwindigkeitsrausch. Newcomer müssen sofort nach ihrem Debütalbum ausgiebig auf Tour gehen, in Fernsehshows auftreten, dabei am besten ein paar Skandälchen produzieren, nebenbei ständig twittern und dann schnell eine neue Platte nachlegen. Das Risiko, in Vergessenheit zu geraten und von der nachdrängenden Konkurrenz überrollt zu werden, ist groß. Denn die Hypemaschinen der Blogosphäre und der Musikpresse brauchen täglich neues Futter für ein Publikum, dessen Aufmerksamkeitsspanne kontinuierlich kürzer wird.

Wer in diesem Umfeld vier Jahre von der Bildfläche verschwindet, wie es Santigold getan hat, muss eigentlich noch einmal ganz von vorne beginnen. Verblasst ist die Erinnerung an ihr fantastisches Debütalbum, das sie noch unter dem später wegen Rechtsstreitigkeiten geänderten Namen Santogold veröffentlichte. Vergessen sind auch die zwei, drei Gastauftritte, die sie bei Kollegen wie den Beastie Boys absolvierte. Der Grund für die lange Stille war eine kreative Krise, wie die 35-jährige Musikerin aus New York in Interviews unumwunden zugibt. Sie habe gedacht: Wir machen es einfach wieder wie beim ersten Mal. Also lud sie Co-Autor John Hill, die befreundeten Produzenten Diplo und Switch nach Jamaika ein, um an neuen Songs zu arbeiten. Doch nichts passierte. Kein Funke flog, keine Idee funktionierte.

Also begann Santigold zu meditieren, trommelte viel und raste auch mal kriminell schnell mit einem Motorboot herum. Anschließend lud sie einfach nochmal die besagten Freunde sowie eine Reihe weiterer Kollegen ins Studio ein. So waren an „Master Of My Make-Believe“, das am kommenden Freitag erscheint, unter anderem Q-Tip, Greg Krustin, Karen O. und Nick Zinner von den Yeah Yeah Yeahs und David Sitek von TV On The Radio beteiligt. Diesmal klappte es – und wie! Santi White, wie die Sängerin bürgerlich heißt, ist eines der überzeugendsten und lässigsten Alben der ersten Jahreshälfte gelungen. Wie schon auf ihrem Debüt zeigt sie ein phänomenales Gespür für das Vermischen verschiedenster Genreelemente: Electro, Dub, R’n’B, Rap und globalisierte Beats treffen zusammen und ergeben immer: Pop höchster Güte.

Natürlich ist der Überraschungseffekt des ersten Albums nicht mehr gegeben und wildes Stilgemische gehört mittlerweile zum Standard. Doch derart zwingend wie bei Santigold hört man das selten. Meisterhaft schichtet sie etwa in der Single „Disparate Youth“ die Synthesizer- und Beat-Spuren übereinander, die von einem dubbigen Bass zusammengehalten werden. Nick Zinner wirft kurz einen verzerrten E-Gitarren-Akkord dazu und ab der Mitte bringen Off-Beat-Keyboard-Akzente einen karibischen Touch in die Sache. Den hat auch das dazugehörige Video, in dem sich die Sängerin von einem alten Rastafari zu einer Dschungelinsel bringen lässt. Dort trifft sie auf einen Stamm bunt bemalter Jungen, der am Ende mit ihr singt. Es sieht ein bisschen aus wie eine hippieske Version von „Lord of the Flies“ trifft „Apocalypse Now“ – ein buntes Mash-up eben, wie die Musik.

Nach dem zackig-aggressiven „Go!“, das wie eine Selbstanfeuerung am Beginn des Albums steht, dominiert ein erstaunlich zurückgelehnter auch melancholischer Sound das Album. Höhepunkte sind das von einer militärisch tackernden Snaredrum angetriebene „God From The Machine“ und das Midtempo-Stück „This Isn’t Our Parade“, dessen Klangästhetik an den Electro-Goth von Fever Ray erinnert. Es gibt auch wieder einige M.I.A.-Momente. Mit der britisch-sri-lankischen Sängerin ist Santigold ja zu Recht immer wieder verglichen worden, was mit Diplo und Switch zusammenhängt, die für beide gearbeitet haben. Doch während M.I.A. zuletzt in eher obskur-nervige Gefilde abgedriftet ist, hat Santigold stets den Mainstream im Blick, wobei sie sich dessen aktuellen Moden verweigert. So setzt sie weder auf Retro-Chic noch lässt sie sich zu David-Guetta-artigem Billig-Bumm-Bumm hinreißen, sondern strebt nach einem eigenen, gegenwärtigen Sound.

Einen Song mit hohem Hitparadenpotenzial hat Santigold an neunter Stelle ihres elf Tracks umfassenden Albums versteckt. „The Keepers“ wird von auf einem galoppierenden Beat getragen und hat einen fast schon klebrig-eingängingen Refrain, in dem sie singt: „We’re the keepers/ While we sleep in America/ Our house is burning down.“ Der Text handelt von Träumen, Illusionen und Ängsten. Auch sonst geht es in Santigolds Liedern nicht sonderlich rosig zu. In „Freak Like Me“ greift sie beispielsweise das plastikpuppenhafte weibliche Schönheitsideal an, das nur operativ erreicht werden kann. Damit stellt sie sich gegen ihre eigene Branche, in der die meisten Sängerinnen genau diesen Normen entsprechen, was zu einem gruseligen Einheitslook der Rihannas, Beyoncés und Britneys geführt hat. Santigold spielt auf dem Albumcover von „Master of My Make-Believe“ mit Genderklischees, indem sie sich in vierfacher Ausführung zeigt: Zwei Amazonen in High Heels und goldenem Bodysuit flankieren einen arrogant dreinblickenden Mann auf einem Ledersessel, der einen dreiteiligen Anzug trägt. Im Hintergrund hängt ein Gemälde von Kehinde Wiley, das ebenfalls Santigold zeigt, diesmal in einer Fantasieuniform. Diese streng symmetrisch, in düsteren Farbtönen gehaltene Coverabbildung hat eine machtvolle, fast autoritäre Anmutung. Es ist wohl Santi Whites Art, zu sagen „Ich bin hier die Chefin“, ohne sich dabei dicks und balls anzudichten wie einst Lady Gaga oder kürzlich Nicki Minaj. Angenehmerweise lässt Santigold – mit Ausnahme von einem Song – auch die derzeit übliche Bitches-and-hoes-Rhetorik beiseite. Sie ist eben etwas Besonderes – da kann das Publikum schon mal vier Jahre warten.

„Master Of My Make-Believe“ erscheint am 4. Mai bei Warner

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