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Komponieren mit Worten. Schriftstellerin Sarah Quigley lebt in Mitte.

© Georg Moritz

Sarah Quigley: Sinfonie der Kriegsstadt

Die neuseeländische Autorin Sarah Quigley lebt in Berlin, liebt seine Langsamkeit und hat einen musikalischen Bestseller geschrieben.

Jemand, der von Neuseeland nach Berlin auswandert – zieht der eigentlich in den Westen oder in den Osten? Kommt auf die Flugroute an. Die neuseeländische Autorin Sarah Quigley kam, als sie 2000 als Stipendiatin zum ersten Mal Berlin besuchte, nicht über Asien, sondern über die USA, wo sie als Journalistin gearbeitet hatte, und England, wo sie in Oxford Literatur studiert hat. In diesem Fall liegt Berlin also weit im Osten, so weit, dass hier die Uhren offenbar anders gehen. Als sie damals durch die Straßen ging, wunderte sie sich über die Leere der Plätze, selbst in Mitte konnte man an einigen Fassaden noch Einschusslöcher aus dem Zweiten Weltkrieg sehen. Die Geschichte war hier nicht nur präsenter als anderswo, sie schien auch noch den Rhythmus des Lebens zu bestimmen. „Vielleicht hat die besondere Langsamkeit Berlins noch immer mit dem Krieg zu tun.“

Wir sitzen vor einem Café am Rosa-Luxemburg-Platz, und während Sarah Quigley über Berlin nachdenkt, leuchtet über unseren Köpfen auf dem Dach der Volksbühne der Slogan OST, der seit Jahren für dieses bestimmte Berlin-Gefühl – der Langsamkeit? – Werbung macht. Sarah Quigley wohnt in der Nähe, mit ihrem Mann, einem schwedischen Künstler.

Neuseeländische Autorin, die einen Roman über die deutsche Belagerung Leningrads und Schostakowitschs Siebte Sinfonie geschrieben hat. Der Aufbau Verlag, der Sarah Quigleys vierten Roman „Der Dirigent“ pünktlich zum Neuseeland- Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse herausgebracht hat, findet diese Mischung so skurril, dass er mit ihr gleich Werbung macht. Aber wenn man mit der zierlichen Frau Mitte 40 spricht, ist an der Kombination überhaupt nichts Ungewöhnliches. Im Gegenteil, das eine scheint sich ganz organisch aus dem anderen zu ergeben. Denn: Wo soll man als Autorin, freischaffende Journalistin und Lektorin eigentlich sonst leben?

„Eigentlich wollte ich nur ein Jahr bleiben – und jetzt bin ich immer noch hier. Mich interessieren auch in der Literatur die Außenseiter, und die werden in Berlin in Ruhe gelassen. In Neuseeland ist der Zwang zur Konformität sehr groß. Außerdem hat das Land nur vier Millionen Einwohner, und die literarische Szene ist klein. Jeder kennt jeden.“

Anonymität, Toleranz, kreatives Umfeld. Das hört sich an wie PR für das Neue Berlin. Allerdings muss man, wenn man mit Sarah Quigley über die Vorzüge und ihr Leben in der Stadt spricht, vor allem an ein altes Berlin denken, an das West-Berlin der achtziger Jahre. Auch Berlin Mitte ist heute ein Künstlerdorf – wie damals Schöneberg –, in dem man nun freilich Englisch spricht. Viel Historie, kleine, überschaubare Welt. Die etwas unwirklich anmutende Abgeschottetheit bringt den Vorteil, in Ruhe arbeiten zu können. Wenn man nicht schon 20 Jahre in Berlin wohnte, man wollte nach Sarah Quigleys Lob der Stadt unbedingt hierherziehen.

Über das zeitgenössische Kunst-Berlin würde sie niemals einen Roman schreiben, aber dass der Krieg, die deutsche Geschichte irgendwann in einem Buch verhandelt werden würden, das lag auf der Hand. Auch, dass Sarah Quigley mal über Musik schreiben würde, denn als junges Mädchen spielte sie Cello und gab die Musik für die Literatur auf.

„Der Dirigent“ handelt auf 400 realistisch erzählten Seiten vom Schicksal dreier Männer im belagerten Leningrad der Jahre 1941 bis 1942 und fiktionalisiert einen Mythos der russischen Musikgeschichte: die Entstehung und Aufführung von Dmitri Schostakowitschs Siebter Sinfonie, die zum Symbol des heldenhaften Widerstands der Stadt gegen den Faschismus wurde. Nach Schostakowitschs Vorstellungen sollte sie „das Bild unseres umkämpften Landes erschaffen, es in die Musik eingravieren“. Schostakowitsch schrieb das Werk hauptsächlich in Leningrad während der Belagerung. Einige Interpreten behaupten allerdings, die Sinfonie sei vorher konzipiert worden und richtete sich ursprünglich gegen den Terror unter Stalin. Uraufgeführt wurde sie nach Schostakowitschs Evakuierung im März 1942 in Kuibyschew. Um die Kampfmoral der russischen Bevölkerung zu stärken, bereitete man eine Aufführung in Leningrad selbst vor, vom Rundfunkorchester, unter der Leitung des Dirigenten Karl Eliasbergs. Die Umstände waren hoch dramatisch. Die ausgehungerten Musiker waren erst zur Generalprobe in der Lage, die Sinfonie ganz zu spielen. Vor dem Konzert beschoss man die deutschen Truppen und beschallte den Feind dann aus riesigen aufgestellten Lautsprechern. Für diese eine Aufführung am 9. August wurde Eliasberg gefeiert. Nach dem Krieg geriet er in Vergessenheit und starb 1978 völlig verarmt.

Dieser Eliasberg ist Quigleys „Dirigent“, ihre Hauptfigur, ein am Anfang einsamer und unsympathischer Mann, der mit seiner schrulligen Mutter zusammenlebt, auf den Partys der Musikerszene voller Selbsthass herumsteht, von Schostakowitsch übersehen, von den eigenen Musikern wegen seiner Stockfischigkeit verlacht. Auch wenn Quigley einige Szenen zu detailliert ausführt – es gelingt ihr wunderbar, mit den existenzieller werdenden Lebensumständen das auf Status Bedachte der Musikwelt in den Hintergrund und dafür die Kraft der Musik selbst in den Vordergrund treten zu lassen. Eliasberg wächst über sich hinaus, und die Handlung endet vor dem legendären Konzert. „Wie sollte man das in Worte fassen?“

„Der Dirigent“ ist Quigleys bisher größter Erfolg, ein Bestseller in Neuseeland, der in ein Dutzend Länder verkauft wurde. Und es ist ihr erster historischer Roman, dessen realer Hintergrund beim Schreiben auch zu Einschränkungen führte. „Schostakowitsch wurde früh evakuiert, ich hätte ihn gern länger in der Stadt gelassen, aber das ging nicht.“

Das Gesellschaftliche und die Kunst, auch auf einer anderen Ebene wird dieser Gegensatz durchgespielt – in der täglichen Anstrengung, die es Schostakowitsch kostete, unter den Widrigkeiten zu komponieren. „Alles, was da über das Komponieren steht“, sagt Sarah Quigley jetzt, „gilt natürlich genauso fürs Schreiben oder Kunstmachen. Wie kann man Kunst machen, ohne darüber nicht rücksichtslos, ohne ein skrupelloser Mensch zu werden?“ Das Fragezeichen hängt lange in der Berliner Herbstluft. „Der Dirigent“ verrät immerhin, wie man über das Kunstmachen zum Helden wird. Wenigstens für einen Tag.

Sarah Quigley: Der Dirigent. Roman. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. Aufbau, Berlin 2012, 398 Seiten, 22,99 €.

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