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Kultur: Sartre lebt hier nicht mehr

Jenseits der Trampelpfade: Karl Heinz Götze erkundet Paris

Das älteste Viertel von Marseille heißt Le Panier. Lange galt es als sozialer Brennpunkt der zweigrößten französischen Stadt. Immigrantenfamilien aus aller Herren Länder kamen zusammen, der Drogenhandel blühte und Jugendgangs belagerten die Gassen. Erst in den letzten Jahren, da viele Pariser hier kaufen und mieten, hat es sich zu einer touristischen Attraktion gemausert. Hier blickt man aus einer Dachgeschosswohnung aufs Mittelmeer, in zehn Minuten zu Fuß ist der „Vieux Port“ erreicht oder die mythische Rue Canebière. Auch an literarischem Unterfutter – von Dumas´ Edmont Dantès auf der vorgelagerten Gefängnisinsel Château d´If über Anna Seghers´ „Transit“ bis zu den Romanen von Jean-Claude Izzo – mangelt es nicht. Es gäbe also viel zu erzählen. Vor allem für jemanden wie Karl Heinz Götze, der eine halbe Autostunde entfernt in Aix-en-Provence Germanistik lehrt. Was aber hat Götze geschrieben? Ein Buch über Paris.

Es gehört schon Kühnheit dazu, einer derart „ausgeschriebenen“ Stadt ein weiteres Bild hinzufügen zu wollen. Zumal dem Literatur-Profi liegen von Walter Benjamins „Passagen-Werk“ bis zu Karlheinz Stierles „Mythos von Paris“ gewaltige Textgebirge im Weg. Dennoch ist Götzes Buch gelungen. Und zwar deswegen, weil es alle Elemente aufs Schönste verwebt. Bei seinem Parcours durch die vier Pariser Himmelsrichtungen macht er sich – nicht ohne eine gewisse romanische Gelassenheit – daran, unser Bilderreservoir ein wenig zu ordnen. Das Unsichtbare der Stadt will er zeigen, aber auch an einigen Mythen kratzen.

Blitzblank und trostlos

Es war der frankophile Schriftsteller und Publizist Friedrich Sieburg, der die deutsch-französischen Mentalitätsspannungen bereits in den Zwanziger Jahren in eine Formel gepresst hat, die noch heute durch das kollektive Bewusstsein geistert. Hier die „blitzblanke und trostlose Musterwelt“, dort das „altmodische und unordentliche Paradies“. Bisher hat sich das Bild als äußerst resistent erwiesen: Gegen jede Reise mit dem TGV, jede Fahrt mit der vollautomatischen Metro, kurz, gegen jede eigene Anschauung. Paris ist eben eine „fertige Stadt“, die Kontrastfolie zum „Berlin ist Werden“. Dennoch sind Retuschen am Gemälde überfällig.

Wer offenen Auges einen Spaziergang über die Champs-Élyssées unternimmt, kann den Glamour der französischsten aller Prachtmeilen nur noch erahnen. Längst hat die internationale Prêt-à-porter-Mode der nationalen Haute Couture den Rang abgelaufen, selbst die Cuisine française musste vor Fastfood-Ketten die Waffen strecken. Demonstrationen recht unterschiedlicher Mächte finden hier nur noch bei Wahlpartys nach Siegen der politischen Rechten oder während der Schlussetappe der Tour de France statt. Auch am legendären Rive Gauche, dem linken Ufer der Seine, erinnert nichts mehr an die existenzialistischen Rollkragenpullover der 50er Jahre. Kaum zu glauben, dass hier in der Zeit der deutschen Besatzung Jean-Paul Sartre, George Bataille, Jacques Lacan, Jean-Louis Barrault und Georges Braque zusammen saßen, um ein Theaterstück von Picasso in der Inszenierung von Albert Camus anzuschauen. Bedeutsamkeit ist das täglich Brot dieser Stadt. Heute funktioniert sie – eingedenk ihrer Geschichte, aber ohne dass diese ihr im Weg stehen würde. Wenn sie etwas auszeichnet, dann die „Selbstverständlichkeit, mit der dort das Neue ins Alte gearbeitet wird.“

Am Wühltisch

Vor allem wenn Götze die touristischen Trampelpfade verlässt, wird ein Paris sichtbar, das die Stereotype sprengt. Das Freiluftmuseum Montmartre etwa, wo im Sommer täglich 600 vollbesetzte Busse zur Kirche von Sacré-Coeur gekarrt werden, trennt nur der Boulevard Barbès vom verschrienen Viertel Goutte d´Or, dem „Afrika intra muros“. Zwischen Zuwanderern aus arabischen und afrikanischen Ländern schiebt sich Götze an den Wühltischen des Billigkaufhauses Tati vorüber und berichtet im Stil einer Sozialreportage von der politisch gewollten Durchmischung, die der Ghettoisierung entgegenarbeiten soll. Dem flankieren immer wieder Überlegungen zur fraglos akzeptierten französischen „Leitkultur“ oder der laizistischen Verfassung der Republik, die den Bau von islamischen Moscheen erschwert. Insbesondere über den touristisch unterbelichteten Pariser Osten erfährt man Interessantes. Hinter der Gare de Lyon kommt schließlich noch Bercy, der „grüne Osten“ mit neu angelegten Parks und dem Palais Omnisports. Und auf der anderen Seite der Seine, im XIII. Arrondissement, wartet das Quartier Tolbiac mit dem weithin unbekannten Chinatown und Mitterands letztem monumentalen Prestigeobjekt, der neuen Nationalbibliothek.

Was das Buch lesenwert macht, ist die synthetisierende Leistung, die ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit ein Paris-Bild entwirft, das dem Mythos Rechnung trägt und ihn gewissermaßen auf den letzten Stand bringt. Von den praktischen Reiseführer-Qualitäten des Bandes ganz zu schweigen. Beim nächsten Trip nach Paris könnte der „Götze“ in der Tasche helfen, die Umschichtungen, die im symbolischen Haushalt der Stadt vonstatten gehen, besser zu begreifen. Einen Nachteil jedoch hat die Strahlkraft von Paris: Alles um sie herum versinkt im Schatten. Auf ein sachlich ähnlich kompetentes und stilistisch ebenso unaufgeregtes Büchlein über Marseille wird man noch eine Weile warten müssen.

Karl Heinz Götze: Immer Paris. Geschichte und Gegenwart. Siedler 2002. 252 S., 19,90 Euro

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