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Kultur: Saufen für die Kunst

„Rave – The Party Simulator“ und andere Blüten der Performancekunst.

Auf dem Boden des Clubs liegt ein junger Mann mit Rollerblades an den Füßen und heruntergelassenen Hosen. Auf seinem nackten Hintern steht „Welcome“. Aus den Boxen dröhnt Kirmes-Techno, grölende Animateure in Toga reichen Tabletts voller Schnaps-Pinnchen herum. Wann immer eine Hupe ertönt, müssen alle auf Ex trinken. Für so was kommen Touristen aus aller Welt nach Berlin. Die Party-Dompteure erfinden Saufspiele (zum Beispiel: Rosinen mit dem Mund aus einer Schüssel voll Wodka fischen). Und sie fordern die Feiernden auf, ihnen mit schwarzem Filzstift Geschlechtsteile auf die Brust zu malen.

So weit alles normal. Aber dieser Abend im Kreuzberger Ritter Butzke ist nicht einfach irgendein peinlicher Exzess. Es ist eine Performance. Die estnische Gruppe mit dem klangvollen Namen Cabaret Rhizome veranstaltet hier eine Sause mit dem Titel „Rave – The Party Simulator“. Der Rahmen ist Fake. Der Fusel ist echt. Wer da besoffen rausgeht, kann sich entschuldigen: Moment, ich war ja nur im Theater. Großartiges Konzept.

„Rave“ läuft im Rahmen des „Nordwind“-Festivals. Das zeigt gerade am HAU allerlei Stücke aus baltischen Ländern. Natürlich nur solche, die mindestens drei Metaebenen und einen Hintersinn haben. Lauschen wir ins Konzept der Esten: „Die partizipative Spielhandlung wird durch die Besucher selbst in Gang gebracht, die Grenzen von Toleranz, mehr Freiheit und Spaß werden ausgetestet.“ Ja, das kann man so sagen. Jetzt aber kommt’s: „Der eigene Trinkhabitus wird kritisch hinterfragt.“ Wie bitte? Wenn man dafür mal Zeit hätte! Es dröhnt ja dauernd die Hupe und man muss weitersaufen. Einlass ab 18 übrigens.

In einem Vorabinterview haben die Cabaret Rhizome-Künstler erzählt, dass sie schon Zuschauer hatten, die bis zum Schluss im Dunkeln tappten. Also dachten, dass sie wirklich auf einer Party sind. Kein Wunder. Bloß weil zwischendrin das Stück „Prometheus und die Zirrhose“ performt wird (einer bindet sich Leberstücke um und fällt in einen Tisch mit Schnapsflaschen), kommt man ja nicht gleich auf Kunst.

Es ist schon seltsam. In der Offszene greift mal wieder die Sehnsucht um sich, wahres Leben zu spielen. Das „Nordwind“-Festival ist ein gutes Beispiel. Es ging los mit dem „Beschwerdechor“ von Tellervo Kalleinen und Oliver Kochta-Kalleinen. Berliner Bürgerinnen und Bürger durften sich im HAU-Foyer mal so richtig den Frust von der Seele singen: „Alte Schuhe im Altpapier / Beerdigungskulturabzocke / Bis Sommer 2014 / Ist die U8 unterbrochen – BOA NE!“.

Danach räkelten sich die Mitglieder der Gruppe Verk Produksjoner auf der Bühne und deklamierten Texte von ihren Freunden, die sich alle an den Tarkowski-Film „Stalker“ nicht richtig erinnern konnten. Und wer weiß, was noch alles kommt? In Gorkis „Nachtasyl“ (inszeniert vom Litauer Oskaras Korsunovas) wird ja auch ziemlich viel gebechert. Womöglich partizipativ.

Im Theaterdiscounter steht gerade die „Live-Dekonstruktion einer Paarbeziehung“ auf dem Programm („Save your Love – Part I“). In den Sophiensälen wurde in der Show „Who’s there“ von Monster Truck kürzlich der ultimative Zuschauer-Albtraum wahr: Man stand von allen Seiten beglotzt selbst auf der Bühne. Hilfe! Ich bin Künstler!

Im Ritter Butzke hat der diskursive Pegel mittlerweile Karaoke-Niveau erreicht. Huuup! Prost! Die Stadt als Bühne, der Rausch als Kunst. Probieren Sie’s selbst aus. Gehen Sie in eine Eckkneipe, schauen Sie sich die Performer an, die dort nach dekonstruierter Paarbeziehung einen ganz eigenen Beschwerdechor bilden, fordern Sie sie auf, kritisch den eigenen Trinkhabitus zu hinterfragen. Und genießen Sie die Vorstellung. Patrick Wildermann



„Rave – The Party Simulator“: wieder 1. und 2.12., 21 Uhr im Ritter Butzke. Nordwind-Festival: bis 8.12. im HAU

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