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Kultur: Schatten der Lust

Schwarzes Spanien: Das Filmfestival von Cannes eröffnet mit Pedro Almodóvars „La mala educación“

Das große Gewitter, das die Zeitung „Libération“ in ihrem kulturpolitischen Wetterbericht prognostiziert hatte, ist ausgeblieben. Keine Massendemo protestierender intermittents du spectacle, dazu womöglich Schlägereien mit der kräftig aufmarschierten Spezialpolizei CRS, sondern der manierliche Auftritt einiger Auserwählter auf dem roten Teppich. „Négociation“ (Verhandlung): Elf Lettern hatten sie sich über den Rücken gehängt, die Männer im Smoking, die Frauen im kleinen Schwarzen oder auch in TShirts und wallenden Röcken, und so verharrten zwei Mariannen des Kampfs um die Künstler-Arbeitslosenversicherungsreform minutenlang auf den Treppenstufen des Ruhms – die Hände hoch über dem Kopf verschlungen. Erster Achtungserfolg für die Festivalleitung: Sie hat sich gebeugt, aber schlimme Bilder und Ereignisse verhindert. Und einen Nieselregen artigen Protests zugelassen, in den sogar der Himmel einstimmen kann.

So kühl wie die Eröffnungszeremonie ist auch der Eröffnungsfilm geraten, Pedro Almodóvars „La mala educación“ (Die schlechte Erziehung) – und so kühl, wenn auch respektvoll wurde er bei der Pressevorführung aufgenommen. Kein französisches Kostüm-Opus à la „Vatel“ oder, schlimmer noch, „Fanfan der Husar“ setzte den ersten Akzent des Festivals, sondern ein sehr schwuler, sehr cooler Film noir des in Frankreich mehr noch als in seiner Heimat geliebten Spaniers. Enrique, ein junger, erfolgreicher Filmregisseur (Fele Martínez) in den postfrancistischen Aufbruchsjahren der Movida, ist auf der Suche nach einem neuen Stoff; da platzt mit einer passenden Geschichte seine erste Liebe aus Klosterschuljahren herein: Ignacio (Gaél Garcia Bernal), so scheint es, hat darin auch Enriques Jugenderinnerungen aufgeschrieben. Da ist die gewaltsame Trennung der Jungen durch den eifersüchtigen Padre Manolo (Daniél Gimenez Cacho), der seine Schützlinge missbraucht, da ist eine Erpressung, mit der der zur Drag’n’Drug-Queen mutierte Ignacio Jahre später eine Operation oder vielleicht auch nur seinen Drogenkonsum finanzieren will – aber was, wenn Ignacio, der sich Angel nennt, womöglich Juan heißt in einem immer undurchsichtiger werdenden Spiel?

Kunstvoll, mit fein ineinander geschachtelten Rückblenden, schön grenzgängerisch zwischen Erinnerung und Erfindung, zwischen sexuellen Identitäten entwickelt Almodóvar die Passionen um diesen vielgesichtigen homme fatal. Doch jenes kranke Feuer, das im Film noir jede Obsession ins Verbrechen umschlagen lässt, will sich kaum entzünden. Nur in der zitternden Begierde des Paters für das Kind Ignacio funkelt es manchmal auf, und für sie hat der Regisseur so viel Nachsicht wie für die alle Regeln verletztende Liebe des Pflegers zur Komapatientin in „Sprich mit ihr“. Natürlich rächt sich diese Begierde, so wie das groß gewordene Kind sich zu rächen sucht in der zweiten, langen Hälfte des Films. Und Enrique, der sich selbst an eine frühe Obsession auszuliefern scheint? Irgendwann benutzt er den rollengeilen Ignacio/Angel auch sexuell und betreibt, leidenschaftsloser Kommissar in eigener Sache, Aufklärungsarbeit bis zum bitteren Ende.

Man könnte sagen: ein erstes Alterswerk des 52-jährigen Spaniers, dieser erst schrillbunteste, irgendwann aber gemächlichste Film noir aller Zeiten. Eine intime Erinnerungsarbeit auch des langjährigen Klosterschülers und Jungregisseurs der großen Wende nach jahrzehntelanger Diktatur. Natürlich habe er nicht diese Geschichte, zu der er nun das Drehbuch schrieb, selber erlebt – ebenso wenig, wie er als Regisseur mit seinen Schauspielern ins Bett gehe, fügte Almodóvar schmunzelnd auf der Pressekonferenz hinzu. Wie er sich überhaupt rührend bemühte, auch auf kurze Fragen ausführliche Antworten zu geben: ein Maestro der sanften Art, verliebt in jede Wendung und Facette seines wendungs- und facettenreichen Films. Für die Augen des verliebten Paters immerhin findet er ein Bild, wie kein Filmkritiker es schöner formulieren könnte: In ihnen spiegelten sich, sagt Almodóvar, die „Schatten der Lust und die Schatten der Scham“.

Ganz im Schatten der Welt leben die Helden des ersten Wettbewerbsbeitrags aus Japan, „Nobody Knows“ – vier Kinder von verschiedenen Vätern, allein gelassen von ihrer Mutter eines Tages in einem kleinen Appartement in Tokio. Der Älteste, Akira, ist zwölf, die Jüngste fünf, und keines von ihnen ist je zur Schule gegangen. Regisseur Isozaku Kore-Eda hat einen 16 Jahre alten japanischen fait divers in eine Zweieinhalbstunden-Meditation darüber verwandelt, wie Mangel an Liebe zu Einsamkeit, zu Verwahrlosung, auch zum Tod führen kann. Auch dieser Film fängt groß und konzis an und scheint irgendwann seine Geschichte nur noch pflichtgemäß zum düsteren Ende zu führen – eine Geschichte, die man sich erzählen lassen könnte, aber nicht unbedingt sehen muss, so wenig Überraschendes gibt es in den Bildern zu entdecken. Und doch, diese ersten Filme des Festivals: Nach den Aufgeregtheiten, den Skandalen und Flops des vergangenen Jahrs geben sie einen überzeugend ernsthaften Ton vor, den die nächsten Tage nur noch orchestrieren müssen.

Ein bisschen heißer allerdings darf uns durchaus noch werden. Wie jubelte Quentin Tarantino, mit „Pulp Fiction“ vor zehn Jahren goldener Palmen-Gewinner und diesmal Vorsitzender der Jury? „Cannes is heaven, heaven, heaven!“ Prompt war der Himmel endlich blau.

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