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Kultur: Schatten und Nebel

Klassiker in 255 Bildern: die Brassaï-Retrospektive im Martin-Gropius-Bau

Dafür, dass er die Fotografie verachtete und sich verbat, für einen „professionellen Fotografen“ gehalten zu werden, hat es Brassaï mit seiner Kamera weit gebracht. Längst zählt er zum Kanon der modernen Fotografie. Sein Kopf speicherte all die Bilder, die er noch einmal mit der Kamera einfangen würde, wenn sich die Gelegenheit böte. Wobei er kein Jäger war, vielmehr ein Sammler, der die Welt bewahren will, die im Begriff ist zu verschwinden.

Brassaïs Bilder konnten nicht nebenbei entstehen. Mit seiner ersten Arbeit über das nächtliche Paris („Paris de nuit“), die seinen Ruhm 1932 begründete und nun auch die große Retrospektive seines fotografischen Schaffens im Berliner Martin-Gropius-Bau eröffnet, setzte er künstlerische Maßstäbe. Die von Straßenlaternen spärlich erleuchteten Ansichten verlassener Quais, Arkaden und Viadukte offenbaren einen Realitätssinn, der das Dauerhafte, Universelle einzufangen und sich gleichzeitig von der Welt, wie der Tagmensch sie kennt, abzuwenden sucht. In dieser Verkehrung der Verhältnisse deutete sich die Nähe zu den Surrealisten an. Bis 1939 sah er seine Bilder regelmäßig im „Minotaure“-Magazin abgedruckt. Indem er oft auf etwas anderes als natürliche Lichtquellen verzichtete, den Nebel virtuos als Katalysator seiner Bildideen einsetzte und den Ausschnitt oft erst in der Dunkelkammer festlegte, erfand er ein Paris nach eigener Vorstellung. Als Reich der Schatten und scharfen Kontraste, aber auch der Hilfsarbeiter, Huren und Ganoven sowie der Vagabunden, zu denen er selbst zählte.

Er kam 1899 im ungarischen Brassov als Gyula Halász zur Welt. Die Familie – der Vater war Professor für französische Literatur – verbrachte 1903 ein Studienjahr in Paris. Nach dem Ersten Weltkrieg trieb es den Kunststudenten zunächst nach Berlin und dann nach Paris. Die Kaschemmen, Bordelle und Bars waren ihm vertraut, in denen er seine Porträts von Menschen machte, die das Licht allzu großer Aufmerksamkeit scheuten. Dabei verraten seine Bilderserien auch das Gespür eines Reporters, der eine Situation in mehreren Einstellungen auflöst, um eine Geschichte zu erzählen.

Es sei dieser literarische Zug im Vorgehen Brassaïs, sagt Kurator Alain Sayag, der ihn zu einem französischen Fotografen mache. Zugleich verraten die Bilderfolgen aber auch eine Unsicherheit ihres Schöpfers, das Alltägliche auf eine Botschaft zu reduzieren. Tatsächlich hatte Brassaï seinen Unterhalt in Paris zunächst als Journalist verdient. Anfänglich beschränkte er sich aufs Schreiben. Aber die knapper werdenden Mittel zwangen ihn, die Fotos zu seinen Artikeln bald ebenfalls zu machen. Schließlich, nach Jahren des Dilettierens, wird er zum „Bildschöpfer“ (Brassaï), als er das Unmögliche angeht: die Nacht zu fotografieren. Dieses Unternehmen wird zum Fundament aller späteren. Die „Schönheit des Düsteren“ lässt ihn nie los.

Auch dann nicht, als er Picassos Skulpturen abzulichten beginnt, Korallen aus der Tiefe des Meeres hebt und als organische Kunstwerke feiert. Immerhin 255 Abzüge aus dem im Centre Pompidou lagernden Nachlass bieten nun in Berlin einen Einblick in das Lebenswerk eines Mannes, der sich die Fotografenrolle wie einen Mantel umwarf.

Brassaïs Motto, sich von den Gegenständen zu ihnen selbst hinaufheben lassen, wie Goethe es formuliert hatte, mündete denn auch in einer philosophischen Auseinandersetzung, die sich in zahlreichen Büchern und Essays niederschlug. Am berühmtesten sind seine „Gespräche mit Picasso“, für die er sich bewusst zum Eckermann machte. Zuvor hatte er bereits Picassos Skulpturen aufgenommen. Dass er in späteren Jahren mit dem Blick eines Bildhauers durch die Welt streifte, wird nirgendwo deutlicher als in den Porträts schlafender, zusammengesunkener Menschen, die auf Parkbänken zu grotesk verrenkten „unfreiwilligen Skulpturen“ werden. „Ich wollte nur die Realität zum Ausdruck bringen“, bekannte er, „denn nichts ist surrealer als sie.“

Martin-Gropius-Bau, bis 28. Mai, Mi–Mo 10–20 Uhr. Katalog im Verlag Christian Brandstätter, 320 Seiten, 69 €.

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