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Kultur: Schattenlasten

Edouard Levé denkt über den Selbstmord nach.

Wladimir Majakowski war mit Sergej Jessenins Freitod 1925 nicht einverstanden. In seinem Nachrufgedicht auf den Lyriker heißt es: „In diesem Leben / stirbt man leicht und gern. / Bedeutend schwerer ist: das Leben meistern.“ Nur fünf Jahre später hielt es auch Majakowski nicht mehr aus. „Bin quitt mit dem Leben“, notierte er in seinem Abschiedsbrief und schoss sich in Herz, das zunächst für die Revolution und dann immer einsamer geschlagen hatte. Ein wenig muss man bei der Lektüre von Edouard Levés „Selbstmord“ an diese beiden Dichter denken.

Levé versucht, in direkter Ansprache an einen Freund, der mit 25 Jahren aus dem Leben schied, dessen Tat und ihre Anzeichen nachzuempfinden. Das ist von großer Eindringlichkeit. Der Erzähler schlüpft förmlich in die Gedanken des anderen hinein, als wollte er etwas herausfinden, das ihn selbst betrifft. Tatsächlich gewinnt das Buch eine andere Dimension, wenn man das Postskriptum liest: Kurz nach der Fertigstellung dieses Requiems brachte sich der Schriftsteller, Künstler und Fotograf Edouard Levé 2007 im Alter von 42 Jahren selber um.

Als „suizidär“ beschrieb Jean Améry einmal jenen Menschen, der „das Projekt des Freitodes in sich trägt“. Der Begriff taugt sowohl für Levé als auch für den beschriebenen Freund, dem er als posthumer Beobachter immer weiter nachfolgt in eine Einsamkeit und Depression hinein, die gerade durch den kühlen, sezierenden Blick des Autors greifbar werden. Die Suche nach einem Motiv für den Selbstmord des jungen, verheirateten, wohlsituierten Mannes steht für das tiefe Verlangen nach einer Erklärung, die Erleichterung verschaffen könnte. Motive gibt es allerdings nicht, nur Indizien. Zugleich findet eine Form von Verklärung statt, die eine Sehnsucht nach einem frühen, romantischen Tod kaum verbergen kann. „Dein Leben war eine Vermutung“, schreibt Levé. „Diejenigen, die alt sterben, sind ein Brocken Vergangenheit.“ Dieses Du, das adressiert wird, verharrt in einer Sphäre des Raunens. Es werden Anekdoten und Episoden aneinandergereiht, die das Geheimnis des Todes nur umso größer machen. Nicht nur das Leben, sondern auch die Lebensbeschreibung bleibt eine literarische Vermutung. So ist dieser Dienst am Freund eine Überhöhung: die Erschaffung einer Kunstfigur, einer unsterblichen Gestalt, eine Stilisierung. Mehr als ein Dialog mit dem Toten ist es ein Nachruf auf sich selbst. „Dein Selbstmord“, heißt es, „ war von skandalöser Schönheit.“ Der Skandal ist die Verneinung jeglichen Möglichkeitssinns. Die Schönheit besteht im „Verzicht“ darauf, im Verschwinden als höchstem Kunstwerk. Ulrich Rüdenauer

Edouard Levé: Selbstmord. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Matthes & Seitz, Berlin 2012. 110 S., 17,90 €.

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