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Schönheit und Spott. „Wurzelbehandlung“ heißt diese Installation aus dem Jahr 2004.

© Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger

Schau im Museum Tinguely Basel: Treten Sie ein. Jetzt.

Schönheit ist keine Frage der Perfektion: Das Museum Tinguely Basel zeigt die anarchische Kunst von Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger.

Der Deal ist ganz einfach: „Sie geben mir Ihre Nägel und bekommen Farbe von mir.“ Wie zum Beweis für die vielen Freiwilligen, die bereits ihre Fingernägel gespendet haben, weist die Frau im weißen Kittel mit ausladender Geste auf all die Exemplare auf ihrem Tisch. Große Nägel wie von einem Riesen sind darunter, verdrehte, die so wachsen, wenn man sie jahrelang nicht kürzt. „Ganz seltene“, sagt die Frau, „da hatte ich Glück“. Spätestens jetzt müsste klar sein, dass dieses „Institut de Beauté“ im Baseler Museum Tinguely reiner Fake ist. Doch die Teenager rund um den Tisch blicken verstört auf ihre Hände, sie überlegen wohl, wie sich das anfühlt: roter Lack im Fingernagelbett.

Das klingt vielleicht etwas grausam, macht aber im Universum von Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger bloß einen Bruchteil ihrer Kunst aus. Der Jägerin jener schmückenden Hornschicht begegnet man auch nur, wenn man den Eingang mit der Aufschrift „Jetzt“ in die Ausstellung „Too early to panic“ wählt. Dahinter verbirgt sich ein wunderbares Sammelsurium aus Fundstücken, wie es typisch für die Arbeit des Schweizer Duos ist: eine Art Gartenschuppen, an dessen Wänden künstliche Blumen mit Plastikfiguren und undefinierbaren Dingen in Schraubgläsern zu einer chaotischen Installation verwachsen. Steiner & Lenzlinger wirken seit 1997 als Künstlerpaar. Viel Zeit, um aus Fundstücken, eigenen Zeichnungen, Fotografien und diversen Zersetzungsexperimenten einen individuellen Kosmos zu schaffen, der sich im gesamten Erdgeschoss des Museums ausbreiten darf.

Für seine wechselnden Soloschauen wählt das Haus stets aktuelle Künstler aus, deren Werk Parallelen zum Hauspatron aufweist. Was Jean Tinguely als Virtuose kinetischer Maschinen bis zu seinem Tod 1991 konstruierte, lässt sich hier in der weltweit größten Sammlung seiner Arbeiten bewundern. Das Anarchische der Objekte, die Anfang der fünfziger Jahre in Paris noch zu Tinguelys Verhaftung führte, weil er mit einer Parade auf der Straße angeblich „groben Unfug“ veranstaltete, ist auch Steiners und Lenzlingers Wunderkammer nicht fremd. Allein die drei Eingänge – einer durch eine Röhre aus Staniolpapier – machen deutlich, dass es hier weniger um einen chronologischen Parcours geht als um ein Labyrinth: Kunst als Unterhaltung mit Erkenntnisgewinn – nicht als Entertainment.

Die Kritik kommt leise daher

Diesen feinen, wichtigen Unterschied machen die beiden, wenn sie etwa Fernbedienungen in Salzlösung einlegen und man dabei zusehen kann, wie der Kunststoff über die Jahre zerfressen wird. Auch die „Schlafenden Samen“ (2002) mit Eiskristallen aus der Spraydose unter einer Glasglocke wirken bloß einen Moment lang wie ein kitschiges Arrangement, um im nächsten Moment sie zum Memento mori einer posthumanen Welt zu mutieren. Deren lebensfeindliche Atmosphäre lässt sich nur abgekapselt ertragen.

Die Kritik kommt leise daher, sie wird überwiegend aus der Anschauung destilliert. Wenn Steiner & Lenzlinger eine komplette Überwachungstechnik installieren, um ihren scharrenden Hühnerhaufen vor den Toren Basels auf einem Dutzend Bildschirmen in die Ausstellung zu holen, denkt man unwillkürlich an die gequälten Artgenossen in der Massentierhaltung. Hühnergackern ertönt auch aus den großen Kühltruhen im Hauptraum, sobald sich ein Besucher auf ein liebevoll dekoriertes Fitnessgerät setzt und mit vollem Körpereinsatz die Deckel der Truhen öffnet, die mit dem Hometrainer verbunden sind. Oder wie wäre es mit der Eisernen Jungfrau, in der ein Dschungel aus kitzelnden, kratzenden Kunstblumen wartet? „Unseren Folterschrank“ nennt das Personal zärtlich die Eigenkreation der Künstler, mit der sie die latente Forderung nach mehr Interaktion erfüllen und zugleich unterlaufen. Weil die Einbindung der Besucher nicht auf technischen Spielereien beruht, sondern auf der Urform des Agierens: Kommunikation.

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Ihre Werke speisen sich aus dem Alltag

In der Schweiz ist das Duo eine feste Größe, seitdem es auf der Leistungsschau Expo.02 ausstellte und das Land 2003 auf der Biennale Venedig vertrat. Die Leichtigkeit seiner ortsbezogenen Installationen, gepaart mit frappierender Schönheit und sanfter Pädagogik, steht tatsächlich in der Tradition Tinguelys, der zeitlebens die ästhetische Dimension beweglicher Schrottkonstruktionen verteidigte. Von ihm über Künstler wie Dieter Roth und die sattsam bekannte Pipilotti Rist lässt sich fast schon eine Genealogie von Schweizer Positionen schreiben, die so lustvoll wie unkonventionell an einer konstruktiven Zerstörung des Kanons arbeiten. Ihre Werke speisen sich aus dem Alltag, brechen in den White Cube der häufig anämischen Konzeptkunst ein und entlassen den Besucher mit irritierenden Botschaften.

„Too early to panic“ demonstriert das mit einer weiteren Performance, an der die Dame in Weiß aus dem „Institut de Beauté“ beteiligt ist. Man kann bei ihr auch eine „Wabi-Sabi“-Schluckimpfung bekommen, nach der die Welt in neuem, helleren Licht erscheint. Eine kurze Zeremonie im abgedunkelten Raum und einen Schluck Edelbrand später erhält man von ihr eine silbern schimmernde Karte, die immer daran erinnern soll, dass Schönheit keine Frage der Perfektion ist. Sondern allein auf der Sichtweise beruht.

„Too early to panic“, Museum Tinguely, Paul-Sacher-Anlage 1, Basel, bis 23.9., Di-So 11-18 Uhr. Infos: www.tinguely.ch

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