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Schauspiel: Phantomschmerz der Oper

Volksbühne voraus: Weil Reden nicht mehr hilft, soll die Musik das Theater aus der Sinnkrise befreien.

Was ist das? Ein Schauspielintendant wirft sich und sein ganzes Haus auf die Oper. Krisenzeichen? Verzweiflungstat? Wahnsinn? Oder ist es – um einen aus der Mode gefallenen Begriff des 20. Jahrhunderts zu gebrauchen – Avantgarde?

Allem Anschein nach erwächst Berlin mit der Volksbühne ein viertes Opernhaus: die Castorf’sche Volksoper. Ein Blick auf den Spielplan der nächsten Wochen: Da stehen Frank Castorfs „Meistersinger“ (nach Richard Wagner und Ernst Toller), da gibt es einen „Wozzeck“ und an diesem Sonnabend eine „Lange Nacht der Oper“, es kündigen sich eine „Tosca“ in der Regie von Sebastian Baumgarten und ein musikalisches „Faust“-Projekt des Hausherrn an. „Opernzeit / Zeitopern“: Unter diesem Motto oder Schlachtruf hat sich Castorf jüngst auch dem „Jasager“ und dem „Neinsager“ von Brecht/Weill genähert. Im Mai übrigens wird Castorf wieder für die Wiener Festwochen inszenieren: „Jakob Lenz“, eine Kammeroper von Wolfgang Rihm.

Wie immer man die neuesten Volksbühnenexperimente in die einst von Benno Besson begründete Spektakel-Tradition des Hauses einsortiert – Frank Castorf nimmt ein Phänomen auf, das man in dieser Stadt nicht mehr übersehen kann. Der Mensch (auch der jüngere, an sich musiktheatermufflige) geht in die Oper! Er sucht dort etwas, was dem Schauspiel auf breiter Front abhanden gekommen ist. Nennen wir es der Einfachheit halber Emotion. Oder Pathos. Oder auch Magie. Oper ist großes Kino, Hort des Irrationalen. Ein Ort der Träume und Sehnsüchte, die im Theater nicht mehr oder nur schlecht befriedigt werden.

Dass Castorf & Co. der Oper mit dem Werkzeug der Dekonstruktivisten und Analysten zu Leibe rücken, dass es ihnen eher nicht um Gefühl und Schwärmerei zu tun ist, ändert nichts an dem Befund. Oper soll die Rettung bringen, die Befreiung vom Diktat der Wörter. Bei Castorf und all seinen Adepten hat das gesprochene Wort, der ursprüngliche Theatertext ja längst seine Bedeutung verloren. Wann hat Castorf zuletzt ein Theaterstück inszeniert? Er arbeitet seit Jahren mit Romanvorlagen und den Bildschöpfungen eines Jonathan Meese – und der Videokamera. In dieser Bilderflut sind zuletzt die großen Volksbühnen-Themen verstummt. Gottsuche, neuer Kapitalismus, Faschismus und Stalinismus – damit sind wir durch. Jetzt gibt es für Castorf nur noch die Musik, das letzte Mysterium. Kann gut sein, dass da einer das Richtige macht – im falschen Medium.

Was oft vergessen wird: Auch Sprechen ist Singen

„Die Musik transportiert ältere Schichten als das Wort. Es ist eine Erinnerung da, und gegen alle Wahrscheinlichkeit glaubt sie, dass es sich lohnt zu überleben“, sagt Alexander Kluge, der raffinierteste Apologet der Oper, im Programmbuch von „Opernzeit / Zeitopern“. An gleicher Stelle steht ein Zitat von Theodor W. Adorno, in dem man nur das Wort Oper durch Theater ersetzen muss, um zu begreifen, was die Stunde geschlagen hat: „Die Oper ist ein ... Füllsel in den Sprenglöchern des Geistes. Dass der Opernbetrieb unverändert weiterklappert, obwohl buchstäblich nichts mehr daran stimmt, bezeugt drastisch, wie unverbindlich, gewissermaßen zufällig der kulturelle Überbau wurde.“

Schwerstes Geschütz! Wenn es denn so ist, dass sich der Theaterbesucher, der nach Herz und Schmerz darbende, in der Oper schadlos hält, dann lohnt ein kurzer Blick in die jüngere Geschichte dieser absurdesten aller Künste. Es war schon einmal umgekehrt. 1967 noch wollte Pierre Boulez die Sinnkrise mit der Sprengung der Opernhäuser beenden. Knapp zehn Jahre später, 1976, riss der französische Komponist und Dirigent in Bayreuth zusammen mit einem unbekannten jungen Regisseur namens Patrice Chéreau den Wagnerianern neue Horizonte auf. Ein Erdrutsch, ein Skandal. Von diesem „Jahrhundertring“ zehrt die gesamte Opernwelt noch heute.

Es waren Theaterregisseure, die der Oper neues Leben einhauchten: Hans Neuenfels, Christof Nel, später auch Heiner Müller und Christoph Schlingensief. Und immer war erstmal Radau, Gebrüll, Protest – wenn etwa Neuenfels in Frankfurt am Main oder in Berlin Verdi inszenierte. Bis heute hat sich die Opernwelt, im Gegensatz zum Schauspiel, diesen Kampfgeist und die Erregungsfähigkeit erhalten. Calixto Bieitos „Entführung aus dem Serail“, heiß umstritten an der Komischen Oper, und Neuenfels’ Kopf-Ab-„Idomeneo“ an der Deutschen Oper liegen noch nicht lange zurück.

Vor dem Absturz in die Lethargie hat das Regietheater die Oper bewahrt. Aber das hatte seinen Preis. Man kann es auch so sehen: Wichtige Regisseure kehrten dem Theater den Rücken und überließen es dem Diskurs. Das Schauspiel verdünnisierte sich auf Metaebenen. Es ist wahr: Auf den Theaterbühnen wird in der Regel nicht mehr gestorben, nicht mehr geliebt, nicht mehr gelitten. Vielmehr wird viel zu viel darüber und darüber hinweg geredet – über die letzten Dinge. Daher die Probleme mit klassischen Dramen. Ein „Karlos“ von Schiller funktioniert nicht, wenn sich Regisseur und Schauspieler um Tod und Teufel herumdrücken. Das Theater ist in die Geschwätzigkeitsfalle gegangen, es folgt dem gesellschaftlichen Trend zur Auflösung alles Unverdaulichen im Talkshow-Format.

„Wir brauchten ein Theater, das die vergangene Zeit – unser aller Vorleben – nicht in den verlotterten Kostümen unserer bedeutenden, aber vom Theater nur schütter begriffenen und vorgeführten Gegenwart ertränkt“, forderte Günther Rühle kürzlich in seiner Rede zur Verleihung des Johann-Heinrich-Merck-Preises in Darmstadt. Fünf Wege aus der Nutzlosigkeit hat Peter Kümmel in der „Zeit“ dem Theater aufgezeigt: Vertierung, Versteinerung, Selbstauslöschung, Verblödung, Sichunsichtbarmachen. Alles nicht sehr erfreulich.

Das Theater erstickt an seiner Gegenwärtigkeit, Nachrichtenhaftigkeit und Aktualität – und die Oper bietet sich als Fluchtpunkt an. Am Ende des Tunnels scheint ein helles Licht, und dieses Licht lockt mit süßen Klängen ins – Musiktheater! Aber auch hier ist Vorsicht geboten, Oper als Droge wirkt nicht ewig, wie in der jüngsten Produktion der Staatsoper Unter den Linden exemplarisch zu erleben ist. Das Regieteam Jossi Wieler und Sergio Morabito, gerühmt für seine sensiblen Stuttgarter Inszenierungen, verspielt Verdis „Ballo in Maschera“ mit einer überdramaturgisierten Schauspielregie. Vom Regen in die Traufe: So haben wir uns die Flucht aus dem Theater in die Oper nicht gedacht!

In der Oper, sagen die Aficionados, kann man die Augen schließen, die Musik genießen, egal was für Zumutungen die Regie bereithält. Ein seltsames Argument. Wenn man erlebt hat, wie bravourös sich Anna Netrebko unlängst an der Deutschen Oper in die zehn Jahre alte, hoch konventionelle „Traviata“-Inszenierung des verstorbenen Generalintendanten Götz Friedrich hineingesungen hat, spricht das eher dafür, dass in der Oper die grundsätzliche Verabredung von Kunstbetrieb und Publikum funktioniert, trotz des Jet-Set-Wahnsinns. Oder gerade deswegen: Mit dem Unwahrscheinlichen, dem Abgründigen und Jenseitigen fängt Oper überhaupt erst an. Im Schauspiel ist das nicht mehr selbstverständlich. Da ist das Rituelle verloren gegangen. Thesen und Themen verstopfen die Sinne.

Aber es bewegt sich wieder etwas, beispielhaft am Deutschen Theater Berlin. Die Erfolgsstrecke des Michael Thalheimer lässt sich auch so erklären, dass hier ein Regisseur radikal opernhaft auftrumpft („Emilia Galotti“). Bei aller Künstlichkeit und Formstrenge: Thalheimers famose Schauspieler kämpfen sich zurück zum Pathos, zur Tragödie, eindrucksvoll zu beobachten bei seinen „Ratten“. An gleicher Stelle trifft Jürgen Gosch mit seinem „Onkel Wanja“ einen seltenen Ton. So viel Gefühl und Härte war in einem Tschechow selten. Bei Gosch gibt es keine Bühnenmusik – es ist die Art des Sprechens, die Stille im Dialog, die Intensität der Seelenerforschung, die diese Szenen aus dem – hauptstädtischen – Landleben über die allgemeine Wurstigkeit herausheben. Dimiter Gotscheff wiederum hat vor allem in seinen „Persern“ an die Rolle des Chores erinnert, der am Anfang der europäischen Theatertradition steht. In Gotscheffs Regiearbeiten findet das Deklamatorische eine überraschende, überwältigende zeitgenössische Form.

„Die Oper“, sagt Alexander Kluge, der bei der Langen Nacht der Oper in der Volksbühne auftreten wird, „hat etwas ganz Einfaches, was ihr zugrunde liegt: Wovon man nicht sprechen kann, davon muss man singen.“ Das gilt nicht weniger für das Schauspiel. Denn auch das Sprechen auf einer Bühne ist ein notwendig kunstvoller Akt: Wovon man nicht sprechen kann, davon muss man schweigen.

Die Oper ist sowieso immer schon tot, in der orphischen Unterwelt gedeiht sie prächtig und genießt ihr autonomes Wesen. Das Theater hat es viel schwerer. Es muss immerzu seine Lebendigkeit beweisen. Und sei es dadurch, dass das Theater Oper spielt.

„Die Lange Nacht der Oper“ mit Alexander Kluge, Franz Hawlata, Stefan Rosinski (Generaldirektor der Berliner Opernstiftung), Frank Castorf u. a., Volksbühne, 26. Januar, ab 19 Uhr – „Tosca“ nach Victorien Sardou, Musik: Tarwater, Giacomo Puccini, Inszenierung: Sebastian Baumgarten, Premiere 1. Februar, 19.30 Uhr. Info: www.volksbuehne-berlin.de

Rüdiger Schaper

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