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Schauspielhaus: Großer Bahnhof in Stuttgart

Es liegt mitten im Schlosspark, mitten im Brennpunkt: Das Schauspiel Stuttgart zieht um und mischt sich in die Proteste gegen das umstrittene Bahnprojekt "Stuttgart 21" ein.

Bäume sollen gefällt werden im Stuttgarter Schlosspark. 2500 Polizisten müssen diese Aktion schützen. Wasserwerfer, Tränengas, Pfefferspray. Über 100 verletzte Demonstranten. Der Bürgerprotest gegen „Stuttgart 21“, seit Monaten friedlich und kreativ, hätte diesen unverhältnismäßigen Polizei-Einsatz herausgefordert? Ein Drama hat begonnen, Ausgang ungewiss.

Jeden Abend Punkt 19 Uhr ertönt der Schwabenstreich: eine Minute Lärm auf Straßen und Plätzen. Erfunden von Regisseur Volker Lösch und Schauspieler Walter Sittler. Aktuelles Polittheater. Mit dem Motto: „Oben bleiben“. Mit Gedichten, Bands und Bürgerchören. Mal ein Schweigemarsch, mal eine Menschenkette, mal eine Demo im Meer grüner Ballons.

Das Stuttgarter Schauspielhaus liegt mitten im Schlosspark, mitten im Brennpunkt. Ausgerechnet jetzt musste das Schauspiel umziehen, wegen Renovierung, in eine ehemalige Mercedes-Niederlassung im Norden der Stadt. Doch die Türlenstraße ist ein Glücksfall. Ein Loft, großzügig, großstädtisch, vier Bühnen, ein helles Foyer, dazu das neue Kino 451, ein weiter Innenhof. Man kann es kaum fassen, das ist Stuttgart? Das ist auch Stuttgart. Oberbürgermeister Wolfgang Schuster, der sich in seiner Stadt nur noch mit Personenschützern zeigen kann, eröffnet in freundlich diplomatischer Rede die neuen Theaterräume, diskutiert danach mit „S21“-Gegnern. Intendant Hasko Weber, noch diplomatischer und ganz Hausherr, dankt der Stadt. Er hat allen Grund: Das Schauspiel Stuttgart wird für 24 Millionen Euro renoviert. Der Umzug in die Türlenstraße gelang unbürokratisch, in atemberaubender Geschwindigkeit. Andernorts sind Theater bedroht. In Stuttgart kommen neue Theaterräume hinzu.

Die erste Premiere in der Arena, dem größten Spielraum: „Der Bau“ von Heiner Müller. Erster Satz: „Warum zertrümmert ihr das Fundament?“ Wer Böses dabei denkt, wird mit eleganten Anspielungen, vor allem aber mit Müllersätzen belohnt, nicht nur aus dem „Bau“. Wird belohnt mit einem spröden Stück, das Hasko Weber im leeren Riesenraum mit seinen Schauspielern zum Schwingen bringt, mit Schubkarren, Zementsäcken, Paletten und viel Bewegung.

„Der Bau“, Müllers Dramatisierung des Romans „Spur der Steine“, wurde 1964 verboten, ebenso die Verfilmung. Der sozialistische Alltag, ungeschönt, dieser Sprengstoff war im Roman nicht aufgefallen. Heiner Müller hat sein Stück immer wieder umgeschrieben, hin zur Parabel, zum Grundsätzlichen. Sein „Bau“ zeigt das Scheitern des Einzelnen an Planwirtschaft und Kollektiv. Heute zeigt Weber, wie die Fehler, die Unmenschlichkeit des Kapitalismus sich spiegeln in den Fehlern, der Unmenschlichkeit der Planwirtschaft. Das System scheitert am System.

Als Eröffnungs-Vorspeise gab es die Dramatisierung des Romans „Teil der Lösung“ von Ulrich Peltzer. Berlin 2003, ein Möchtegernschriftsteller, eine Studentin. Er schreibt über die Roten Brigaden, sie ist heimliche Aktivistin, will mehr als demonstrieren.

Als Nachtisch ein Soufflé. Inspiriert von einem Song von Sammy Davis jr., inspiriert von René Polleschs sprudelnden Nonsens-Sinnsprüchen slapsticken sich fünf Schauspieler durch „Drei Western“. Unter ihnen auch ein gewisser Harald Schmidt, der sich glänzend ins glänzende Ensemble fügt. Birkenwäldchen, Kirschblüten, Kunstschnee: nichts fehlt, was ein Tschechowstück braucht. Zum Leidwesen der Agierenden wird aber nicht „Drei Schwestern“ sondern ein Western gegeben. Hauptsächlich geht es um Lügen und nicht Lügen. Um die Verabredung, an die Lügen der Schauspieler, des Lebens überhaupt zu glauben. Und um eine Radiosendung, die als Pantomime vorgeführt wird, was gelegentlich auch gefilmt wird. Es gibt viele solcher Verdrehungen und viele Höhepunkte, wie eine goldene Riesenschale als ferngesteuertes Fahrzeug.

So harmlos hätte man das nach dem 30. September nicht inszeniert. Jetzt sind die ersten Bäume gefällt, die ersten Demonstranten verletzt. Das Fundament ist zertrümmert: das Vertrauen der Bürger.

Ulrike Kahle-Steinweh

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