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Kultur: Schicht um Schicht ins Lampenlicht

Im Geist von Marcel Proust: Erwin Mortiers außergewöhnlicher, aus der Zeit gefallener Roman „Götterschlaf“

In Erwin Mortiers neuem, fünftem Roman „Götterschlaf“ gibt es zwei bezeichnende Passagen, die etwas verraten vom erzählerischen Ehrgeiz dieses Autors – auch wenn er die Sätze seiner weiblichen Hauptfigur in den Mund legt: Zum einen ist es die Erwähnung Prousts, der für Mortier von seinem ersten Roman mit dem bezeichnenden Titel „Marcel“ an eine immense Rolle spielte. In „Götterschlaf“ bereitet die Lektüre Prousts der Erzählerin „geradezu Bauchweh“. Durch seine Sätze – „seine Loire-Sätze, seine Mississippi-Sätze, seine grammatischen Kongo-Ströme und seine von Sedimenten schwangeren syntaktischen Nildeltas“ – rausche die große tote Zeit.

Tatsächlich strömt auch durch Erwin Mortiers Roman die tote Zeit, die noch einmal in der Erinnerung seiner greisen Erzählerin wachgerufen wird. Der Geist Prousts selbst strömt durch die Sätze Mortiers und in den zitierten „Nildeltas“ scheint sogar die berühmte Proust-Lektüre Walter Benjamins auf. Zum anderen ist es die Eifersucht der Erzählerin auf andere Künste, vor allem die Malerei, „weil ich mir eine Sprache wünsche, die keine Bedeutung in sich trägt, sondern vor allem Intensität, eine Bedeutung, die über die Bedeutung hinausgeht und die man nicht so sehr lesen als vielmehr betrachten muss, mit der Gelehrtheit des Auges, der Gelehrsamkeit der Netzhaut“.

Die Verbindung aus Proust und dem unerfüllbaren Wunsch nach einer die Semantik hinter sich lassenden, bildgewaltigen Sprache trägt zum großen Reiz dieses Romans bei – und sie ist zugleich sein Problem. Aber der Reihe nach. Die 90-jährige Helena Demont wird von ihrer Bediensteten Rachida gepflegt und verbringt ihre Tage damit, Erinnerungen nachzuhängen, vergilbte, verblassende Notiz- und Tagebücher zu lesen, sich ihrer Herkunft und der Menschen, denen sie begegnet ist, zu vergewissern. „Ich würde viel darum geben, in die Tiefen unserer Geschichten absteigen zu können, an einem Seil in ihre dunklen Schächte herabgelassen zu werden und Erdschicht um Erdschicht im Lampenlicht vorbeigleiten zu sehen.“

Helena steigt tief hinab in den Sommer 1914. Die Familie, im wohlhabenden flämischen Bürgertum zu Hause, verbringt die Ferien auf dem Anwesen des Onkels mütterlicherseits in Frankreich. Es sind unbeschwerte Tage, die auch nicht getrübt werden durch die Nachricht von der Ermordung Franz Ferdinands. Niemand hat die geringste Vorstellung davon, welche Folgen dieses Ereignis haben würde. Das Leben geht zunächst weiter wie immer, aber das Grauen des Krieges rückt näher. Nicht nur der Bruder Helenas, der später als Verwundeter von den Schrecken erzählen wird, bringt den Krieg nach Hause; Helena lernt einen jungen englischen Offizier und Fotografen kennen und lieben, mit dem sie der Front sehr nahe kommt.

Manche Beschreibungen von Schmerz, Leid und Elend sind so unmittelbar und seltsam kunstvoll, dass man sich fragt, wie ein Nachgeborener diese Nähe zu einem fast 100 Jahre vergangenen Ereignis herstellen kann: Einfühlung setzt eben kein authentisches Erleben voraus; auch heute gibt es Kriege und Empfindungen von Brutalität und Unheil unterscheiden sich nicht groß von dem Empfinden früherer Zeiten. Aber bei Mortier kommt etwas anderes hinzu: eine Ästhetik der Empathie, die von der Übersetzerin Christiane Kuby mit aller Eleganz übertragen wurde und auf einer zweiten Ebene funktioniert. „Götterschlaf“ speist sich nämlich auch aus der Literatur selbst. Mortier vollzieht in formvollendeten Sätzen, in teils eindrücklichen Szenen eine schon einmal literarisch gewordene Wirklichkeit nach. Gleichwohl hat dieses formale Zitieren der Literatur der klassischen Moderne – ob Marcel Proust oder Virginia Woolf – eine sinnliche Qualität: Mortier findet eigene, wenngleich stilistisch an alten Vorbildern geschulte Bilder, etwa wenn er von den Verwundeten und Versehrten erzählt: „Und so gab der Krieg Unzählige zurück gegen Einbehaltung eines willkürlichen Prozentsatzes Fleisch“.

Zuweilen übertreibt er es mit seinen gedrechselten Formulierungen, schreibt er selbstverliebte Plattitüden: „Wenn man älter wird, sieht man keine Menschen mehr um sich, sondern Ruinen in Bewegung.“ Und manchmal gerät die Sprache auch in die Nähe des Malerischen, wie es sich seine Erzählerin wünscht.

Mortier arbeitet mit Gegensätzen. Der Sprachlosigkeit angesichts des Grauens setzt er seine Sprachmagie entgegen. Dem körperfeindlichen Krieg eine immense Körperlichkeit, die er eindringlich zu beschreiben weiß. Und es gibt noch die Opposition zwischen Helena und ihrer Mutter – wie es sie dann auch zwischen Helena und ihrer Tochter gibt, über die wir aber kaum etwas erfahren. Es ist eine Hassliebe, ein merkwürdig angespanntes Verhältnis. Von Anfang an steht etwas zwischen ihnen, von Anfang an ist die Richtung bis ins Sprechen hinein vorgegeben: „Ihr Spott diente einem höheren Zweck. Sie wollte mich in die Alltäglichkeit des Wortes stoßen, meine Gedanken in solide Winterkleider zwängen.“

So eindrücklich Mortier diese fatale Nichtbeziehung auch in Worte fasst, psychologisch bleibt sie rätselhaft. Noch geheimnisvoller ist aber das Verhältnis zwischen Helena und ihrem geliebten Mann, dem sie sich – wie man erfährt – nach dem Krieg entfremdet. Das wird nur festgestellt, bleibt aber ohne Motiv, ohne Geschichte. So scheint hier, das ist nicht zuletzt auch bei den früheren Romanen Mortiers zu beklagen gewesen, auf der Handlungsebene und in der Charakterzeichnung der Figuren manches offen und unausgegoren, was durch die Kunstfertigkeit seiner Sprache überdeckt wird. Gleichwohl ist „Götterschlaf“ ein außergewöhnliches, meisterliches, aus der Zeit gefallenes Buch. Man reibt sich die Augen angesichts des beeindruckenden Versuchs, den ungeheuerlichsten Dingen mit aller Sprachkraft beizukommen und dem gewaltigen Erinnerungsfluss in all seine Ausläufer hinein zu folgen.

Erwin Mortier:

Götterschlaf. Roman. Aus dem Niederländischen von Christiane Kuby. DuMont, Köln 2010. 367 S., 22,95 €.

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