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Kultur: „Schießt mich in den Himmel!“

Jonathan Franzen über Kolibris und Goldadler, das Schreiben und die Klimafrage – und sein Kindheitsbuch „Die Unruhezone“

Menschen, die ihre Gäste auf Socken empfangen, haben etwas Entwaffnendes. Jonathan Franzens Socken sind weiß, und sein Zuhause ist eine großzügige Wohnung an der Upper East Side, von der aus man einen wunderbaren Blick über die Dächer von New York hat. Vor dem Gespräch isst der Schriftsteller eine Banane. Er müsse seinen Interviewkopf zusammenkriegen, erklärt er und setzt sich an den hölzernen Esstisch. Zwischendurch kommt Franzens Lebenspartnerin, die Schriftstellerin Kathryn Chetkovich nach Hause. „Die Kalifornierin“, wie Franzen sie in seinem neuen Buch nennt, verstaut Einkäufe in der Küche und verschwindet in ein angrenzendes Zimmer.

Mr. Franzen, in „Die Unruhezone“, Ihrem Selbstporträt in sechs Kapiteln, erfährt man neben manch anderem, dass Sie seit einiger Zeit ein obsessives Interesse für Vögel hegen. Wie kommt das?

Ich muss gestehen, dass ich mein Vogelproblem immer noch nicht im Griff habe. Ich bin nur noch an Reisen interessiert, die ornithologisch ergiebig sind. Selbst Lesetouren versuche ich so einzurichten, dass stets Zeit und Gelegenheit für das Beobachten von Vögeln bleibt. Natürlich geht mein Vogelproblem auf jenes andere unlösbare Problem zurück, das es mir unmöglich macht, mich weiterhin meines Lebens als wohlhabender Bürger des Westens zu erfreuen.

Und das wäre?

Die Naturkatastrophe, auf die wir zurasen, die globale Klimaerwärmung und die damit verbundenen Veränderungen, an die sich die Vögel nicht schnell genug anpassen können. Ich habe das Gefühl, dass ich nicht das Recht habe, einfach weiter ein normaler Schriftsteller zu sein, und mich eigentlich vollständig dem Umweltaktivismus widmen müsste. Leider bin ich vom Temperament her für Aktivismus ungeeignet. Was wiederum dazu führt, dass ich viel Zeit damit verbringe, überhaupt nichts zu tun.

Wenigstens tun Sie so nichts Schlechtes.

Das glaube ich nicht. Aus schuldig-protestantisch-grüner Warte verschandele ich die Erde allein dadurch, dass ich atme, esse und Abfall produziere. Würde ich mich in guter protestantischer Selbsthass-Manier tagein, tagaus bemühen, den Schaden zu begrenzen, den ich allein durch meine Existenz anrichte, dürfte ich vielleicht auf Erlösung hoffen.

Vermutlich wären Sie dabei aber todunglücklich.

Wenn man dazu neigt, ist Selbstaufopferung eine tolle Sache. Wenn nicht,wird man unglücklich.

Sie scheinen aber auch so einen Großteil Ihres Erwachsenenlebens damit zuzubringen, unglücklich zu sein.

In gewisser Weise, ja. Aber die Ankunft der Vögel in meinen Leben fiel zusammen mit der Ankunft des Glücks. Vögel zu beobachten bereitet mir uneingeschränkte Freude, obwohl ich mir immer bewusst bin, in welcher Gefahr sie schweben. Es ist paradox: Ich empfinde höchstes Glück und tiefe Traurigkeit zugleich. Und ich glaube, dass viele Menschen solche widersprüchlichen Gefühle hegen, ob sie nun Vogelenthusiasten sind oder nicht. Hier im Westen erleben wir die beste und die schlechteste aller Zeiten. Uns persönlich ist noch nichts Grauenhaftes zugestoßen, aber wir sehen den Terror um uns herum. Vielen Leuten hier geht es besser denn je, während es Millionen anderen schlechter geht denn je.

Dieses Paradox beschäftigt Sie.

Es bringt meine langjährige Überzeugung ins Wanken, dass Leute, die Romane schreiben, sich nicht von einem Gefühl sozialer Verantwortung erdrücken lassen sollten. Dass sie gute, komische oder tragische Werke nicht durch eine simple politische Agenda verunstalten sollten. Eigentlich denke ich über Schriftsteller wie über Vögel: Warum lässt man sie nicht einfach in Ruhe? Warum lässt man sie nicht einfach singen, was sie singen wollen?

Es zwingt Sie ja niemand, politisch engagierte Literatur zu produzieren.

Trotzdem entsteht für mich gute Literatur aus einem Gefühl persönlicher Betroffenheit heraus. Man kann die Realität nicht einfach ignorieren – es ist komplizierter.

Reden wir über Ihr Buch. Sie beschreiben darin, wie Sie als Acht- oder Neunjähriger vor Ihren Nachbarmädchen die Hosen herunterließen …

… aus dem Bedürfnis heraus, nur ja nicht ihre Aufmerksamkeit zu verlieren …

… und darauf bermerkten Sie zu Ihrem Schreck, dass damit ein Blick auf „den Menschen gewährt worden (war), der zu werden ich beständig Gefahr lief“, und der „das Schlimmste (war), was ich je gesehen hatte“. Hatte der Junge mit den heruntergelassenen Hosen zum ersten Mal Bekanntschaft mit dem Es gemacht?

Ja, genau. Genau!

Sie schreiben auch, dass Sie entschlossen waren, diesen Menschen nie wieder aus sich herauszulassen. Tun Sie mit einem so persönlichen Buch nicht genau das?

Ich war lange unsicher, ob ich ein Buch wie „Die Unruhezone“ überhaupt schreiben sollte. Als Entertainer muss man sich über Aufmerksamkeit freuen. Und ich betrachte mich als Entertainer. Ich habe in den letzten Jahren gemerkt, dass ich mich selten wohler fühle, als wenn eine große Menschenmenge hören will, was ich zu sagen habe. Zugleich habe ich jedoch das Gefühl, die natürliche Einsamkeit des Schreibens und des Lesen zu verraten. Ich fühle mich schuldig, weil ich gern im Zentrum der Aufmerksamkeit stehe.

Inwiefern ist Schreiben ein ständiges Die-Hosen-Runterlassen?

Ich kann Ihnen versichern, dass ich nach „Die Unruhezone“ kein Bedürfnis mehr verspüre, über mich selbst zu schreiben. Ich sehne mich nach dem Schutz der Masken, die man sich in der Fiktion überstreift. Literatur funktioniert, wenn der Autor darin für alle zugleich sichtbar und unsichtbar ist. Wenn man einfach sein Inneres ausspuckt, rennen die Leute schreiend davon. Man muss sich einen Stil zulegen, der unterhaltsam und anrührend ist, sonst fühlen sich die Leser zu Recht in ihrer Privatsphäre verletzt.

Auch „Die Unruhezone“ ist ein raffiniertes, von Selbstironie geprägtes Buch.

Weil auch der Jonathan Franzen, den ich Ihnen präsentiere, eine Kreation ist. Ich erzähle nur über ihn, was ich will.

Mit zur Auswahl gehört, dass Sie erneut über den Mikrokosmos Familie schreiben. Stört es Sie, dass Sie mit 47 Jahren noch keine eigene Familie gegründet haben?

Es bekümmert mich. Ich zweifle nicht daran, dass mein Vogelproblem auch damit zusammenhängt, dass ich die Gelegenheit, Kinder zu haben, in meiner langen, gescheiterten Ehe vermasselt habe. Nun übertrage ich meine Vaterinstinkte eben auf Vögel. Ein schlechter Ersatz, das gebe ich zu. Die engste familiäre Beziehung, die ich je hatte, war die zu meinen Eltern. Sie sind beide tot. Es ist merkwürdig, wenn die einzigen Familienbande jene zu Menschen sind, die gestorben sind. Natürlich habe ich Kathy (die Schriftstellerin Kathryn Chetkovich, Franzens Lebensgefährtin) und meine beiden Brüder. Trotzdem laufe ich Stunde um Stunde mit dem Gefühl herum, aufs Intimste mit dem Land der Toten verbunden zu sein.

„Die Unruhezone“ enthält auch ein Kapitel über die „Peanuts“-Comics, die Sie als Junge begeistert lasen. Über den Peanuts-Schöpfer Charles Schulz schreiben Sie: „Schulz war nicht Künstler, weil er litt. Er litt, weil er Künstler war.

Dass das klar ist: Alles in allem hatte ich eine glückliche, erfolgreiche Kindheit. Man braucht nicht gelitten zu haben, um als Künstler gute Arbeit zu leisten.

Was Sie über Schulz schreiben, impliziert aber, dass eine Entscheidung fürs Künstlerdasein auch Unglücklichsein bedeutet. Warum tun Sie sich das an?

Ich denke an die Kolibris, die in Mexiko überwintern und im Februar anfangen, wie die Wilden zu fressen. Wenn sie mindestens fünfzig Prozent ihres Gewichts zugelegt haben, starten sie einen 800 Meilen langen Non-Stop-Flug über den Golf von Mexiko. Das ist ein furchtbarer Flug, bei dem sie all das Fett verbrennen, das sie sich über Monate angefressen haben. Wenn sie an der Küste ankommen, sind sie vollkommen erschöpft. Aber dieser Flug ist nun mal Bestandteil ihres Lebens.

So wie Sie nicht anders können, als Schriftsteller zu sein?

Zumindest wusste ich früh, was ich werden wollte. Natürlich würde ich am liebsten zweimal am Tag mit dem Schreiben aufhören und Vögel beobachten gehen. Aber stattdessen stopfe ich mich voll wie ein Verrückter, um mich für den 800Meilen-Flug zu wappnen.

Würden Sie gerne als Gelbfuß-Pfeifgans wiedergeboren werden?

Das würde immerhin bedeuten, dass es ein Leben nach diesem gibt. Großartig!

Wieso?

Ich ziehe die Existenz der Nichtexistenz, das Konkrete dem Metaphysischen unter allen Umständen vor. Tiere stellen die höchste Form der Materie dar. Ich bestehe aus Materie, aus Atomen und Molekülen, und empfinde eine Verwandtschaft mit allem, was existiert. Mein einziger wiederkehrender Traum ist der vom Fliegen. Halt, das stimmt nicht, ich habe auch einen wiederkehrenden Traum über ein Gewehr. Egal, jedenfalls träume ich oft, dass ich schwebe und an der Decke entlanggleite. Sobald ich aber darüber nachdenke, wie ich das geschafft habe, sinke ich wieder ab. Die Erfahrung abzuheben, und sei es nur für eine Sekunde – das ist ein phänomenales Gefühl. Schießt mich in den Himmel, lasst mich sechs Monate lang da oben, und ich werde sagen: Ich hatte ein gutes Leben.

Und was ist mit der Gelbfuß-Pfeifgans?

Ich würde mich eher für einen Raubvogel entscheiden. Raubvögel besitzen Autonomie. Die scheinen nicht ihr ganzes Leben damit zu verbringen, sich zu fürchten. Als Goldadler wiedergeboren zu werden, das wäre nicht schlecht.

– Das Gespräch führte Sacha Verna.

Jonathan Franzen, geb. 1959 in Western Springs /Illinois, wuchs in einer Vorstadt von St. Louis auf. 1988 veröffentlichte er sein Debüt „Die 27. Stadt“, für seinen dritten Roman, den Bestseller Die Korrekturen , erhielt er 2001 den National Book Award. Franzen lebt in New York.

Sein Kindheitsbuch

Die Unruhezone. Eine Geschichte von mir (Aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld, 256 S., 19,90 €) erscheint wie sein bisheriges Werk bei Rowohlt .

Auf Deutschlandtournee liest Franzen im

Literaturhaus Hamburg (12.3.), in der Kölner Oper (13.3.) und im

Literaturhaus München (14.3). Die Lesung und TV-Voraufzeichnung am morgigen Sonntag in der

Berliner Landesvertretung Rheinland-Pfalz

ist ausgebucht.

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