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Kultur: Schleim, Schein und Sein

Spiel von Kraft und Gegenkraft: Matthew Barneys legendärer „Cremaster-Zyklus“ kommt ins Kino

Das Projekt ist so legendär wie unbekannt. Von Matthew Barneys „Cremaster-Zyklus“ raunt die Kunstwelt, seit 1994 der erste Teil in der Öffentlichkeit vorgestellt wurde: ein hybrides Kunstfilmprojekt, das sich aus keltischen Mythen, schwülen Bilderwelten, Musical- und Western-Stoffen sowie Reminiszenzen an Stanley Kubrick und David Lynch zusammensetzt, und das über 300 Minuten lang. Die wenigsten haben es komplett gesehen. Und dennoch: Als „ultimately the most important American artist of his generation“ hat die „New York Times“ den 1967 in San Francisco geborenen Barney, der sich selbst als Bildhauer sieht und mit der Popsängerin Björk verheiratet ist, 1999 gerühmt. Anderen gilt sein Werk als Inbegriff der Postmoderne, als Zwitter zwischen Film und Kunst und letztlich als einzigartige Kuriosität.

Das beginnt schon beim Stoff. Schwer zu sagen, worum es in dem fünfteiligen Zyklus geht, der seinen Namen „Cremaster“ von dem Muskel erhalten hat, der für das Auf- und Absinken der Hoden verantwortlich ist. Doch noch schwerer, sich dem überbordenden Bilderreichtum zu entziehen, der sich von Film zu Film steigerte, dem steten Fluss der Bilder, der elaborierten Choreografie: eine ganz eigene Sprache, ein schräger, wilder Trip. Um das Spiel von Kraft und Gegenkraft, um das Vermögen des freien Willens, um Sexualität und Geschlechtlichkeit, um uramerikanische Mythen, Geburt und Tod gehe es ihm, sagt Barney selbst in Interviews. Handlung allerdings ist nur verschlüsselt zu entdecken, auch wenn sich Barney zum Teil auf literarische Vorlagen wie Norman Mailers „The Executioner’s Song“ und historische Figuren wie den Magier Harry Houdini bezieht.

Wer die Teile des Zyklus bislang nur vereinzelt gesehen hat, zum Beispiel in den Kunst-Werken, wo „Cremaster 2“ im Jahr 2000 zu sehen war, oder im Haus der Kulturen der Welt, wo im März im Rahmen der Ausstellung „Über Schönheit“ „Cremaster 5“ gezeigt wurde, kann das Gesamtwerk nun komplett genießen. Nachdem der „Cremaster Zyklus“ 2003 schon einmal in Köln, Paris und im Guggenheim New York gezeigt wurde, tourt er nun durch sechs deutsche Städte und ist im Oktober jeweils mittwochs im Berliner Kino Filmkunst 66 zu sehen (5., 12. und 19. Oktober, jeweils ab 17.30 Uhr).

Was also ist zu erwarten? Zwei Zeppeline, die über einem Stadion schweben, in ihnen je eine weiß gekleidete Frau, die Weintrauben zu geometrischen Mustern ordnet – und unten im Stadion stellen Musicaltänzerinnen die Figuren nach („Cremaster 1“, 1995, 40 min.). Der Doppelmörder Gary Gilmore (gespielt von Matthew Barney selbst), der einen Tankstellenbesitzer ermordet, zum Tode verurteilt wird und in einem Rodeo auf einem Salzfeld zu Tode gehetzt wird – und, in einer Parallelhandlung, der Zauberer Harry Houdini (Norman Mailer), der der Großvater von Gary Gilmore gewesen sein soll („Cremaster 2“, 1999, 80 min.). Später, im zuerst gedrehten „Cremaster 4“ (1994, 40 min.), ein Motorradrennen auf der Isle of Man und in „Cremaster 5“ (1997, 50 min.) ein Hexenfest, gedreht im Gellert-Bad in Budapest, mit Ursula Andress als singender Kettenkönigin, während Matthew Barney, wiederum als Houdini, sich in die Donau stürzt.

„Cremaster 3“ schließlich, der letzte, 2003 veröffentlichte Teil, ist mit einer Laufzeit von über drei Stunden nicht nur fast genauso lang wie alle anderen. Er ist auch der dichteste, aufwändigste Film: eine Hommage an das Chrysler Building in New York. Der Künstler selbst übernimmt die Rolle eines Lehrlings, der den Architekten des Gebäudes herausfordert. Und der Künstler Richard Serra schleudert im New Yorker Guggenheim Museum Vaseline gegen die Wand. Schleimig geht die Kunst zugrunde.

Christina Tilmann

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