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Ernst Ludwig Kirchner porträtierte 1926/28 Max Liebermann in seinem Atelier (Ausschnitt).

© J. Nober

Schließung der Neuen Nationalgalerie: Kirchner und Liebermann wandern ab ins Depot

Die Neue Nationalgalerie erhält einen Kirchner und einen Liebermann als Schenkung – aber die Bilder verschwinden gleich wieder. Überhaupt findet die Sammlung des Hauses während der Museumssanierung erst nächsten Frühsommer hier und da Asyl. Teilweise.

Manuela Martina Müller war eine sportliche Frau. Sie hatte Ausdauer. Sie spielte Tennis. Sie lief Marathon. Und sie war lange Jahre Mitglied der Freunde der Nationalgalerie in Berlin, fast zwei Jahrzehnte insgesamt. Nun wird ihr letzter Wille erfüllt: Knapp 100 Freunde, die ja auf ihre Art Pfeiler des Museums sind, stehen am Dienstagabend in der Neuen Nationalgalerie zwischen David Chipperfields 143 Fichtenstämmen, die für drei Monate das Dach zu tragen scheinen in diesem Tempel der Moderne. In Mies van der Rohes gläsernem Haus, das Ende Dezember zur Generalsanierung geschlossen wird, für mehrere Jahre.

Peter Raue, der frühere Vorsitzende des Vereins der Freunde, verkaufte als Vollstrecker des Testaments weisungsgemäß drei Berliner Wohnungen von Manuela Martina Müller. Er erzielte eine Million Euro und erwarb wunschgemäß ein Werk der Klassischen Moderne für den Bestand der Neuen Nationalgalerie, ein Gemälde von Kirchner. Und das ist jetzt für anderthalb Stunden sichtbar.

Zwei Liebermann-Porträts gibt es als Schenkung

Das Erbe passt auf eine Staffelei neben Raues Rednerpult. Die Immobilien, die Manuela Martina Müller dem Verein vermachte, sind äußerlich geschrumpft auf achtzig mal siebzig Zentimeter, aber in ihrer Bedeutung für Berlin gewachsen: Ernst Ludwig Kirchners spätes Bildnis „Max Liebermann in seinem Atelier“, mit geschlossenen Augen. Daneben steht als anonyme Spende an den Verein ein weiteres Gemälde, ein Porträt von Liebermann, wie der Maler sich 1915 selber sah, die Hände in den Taschen, forschender Blick.

Die feierliche Aufnahme in den Bestand der Staatlichen Museen zu Berlin ist zugleich ein Glück und der Verweis auf einen absurden Notstand. Denn beide Bilder, an diesem Oktoberdienstag von 19 bis 20.30 Uhr suboptimal beleuchtet vor einem exklusiven Kreis von Förderern der Neuen Nationalgalerie gezeigt: Das ist womöglich die maximale Öffentlichkeit, die diesen Werken für die nächsten Jahre beschieden sein wird. Nüsschen, Küsschen und ab ins Depot.

Dass ein neues Haus für die Moderne fehlt, wird immer schmerzlicher spürbar

Anonyme Gabe. Max Liebermanns Selbstbildnis von 1915 (Ausschnitt).
Anonyme Gabe. Max Liebermanns Selbstbildnis von 1915 (Ausschnitt).

© David von Becker

Es ist eine Bestandsaufnahme in zweierlei Hinsicht: 80 mal 70 und 75 mal 50 Zentimeter, Öl auf Leinwand? Öl ins Feuer! Denn es gibt nicht genug Hülle für die Fülle. Jedes Mal, wenn die Nationalgalerie ihren Reichtum zeigt, wird die Raumnot für die Moderne in Berlin umso schmerzlicher spürbar. Jede Demonstration der Großzügigkeit von privater Seite ist auch ein Hinweis auf die klamme Lage der öffentlichen Hand. Die Entschlossenheit der Freunde der Nationalgalerie gerät zum Fingerzeig für das Zaudern des Bundes, der sich nicht zu einem Erweiterungsbau für die Moderne durchringen kann.

„Sie sehen die Bilder hier nicht im optimalen Museumslicht“, sagt Udo Kittelmann, Direktor der Nationalgalerie. „Das dürfen Sie ruhig symbolisch verstehen“. Man muss das nicht mehr erklären, die Klage über die Raumnot ist bei den Museumschefs längst zum Mantra geworden.

Kittelmann schickt seine Schätze ins Depot

Seit vier Jahren spielt Kittelmann in seinem Haus auf dieser Klaviatur. Gleichzeitig wird etwas präsentiert und auf das Fehlende verwiesen, den ins Dunkel des Depots abgedrängten Rest. Drittelweise hat er die Bestände vorgeführt, zunächst die Klassische Moderne, dann die Nachkriegszeit, nun die Phase seit 1968. Und jedes Mal wurde die räumliche Misere offensichtlicher. An diesem Abend treibt der Hausherr es noch weiter: ein paar Stunden lang einen Schatz herzeigen, der dann auf unabsehbare Zeit verschwindet? Der Masochismus hat bei ihm System. Er fühle sich wie ein Prediger, sagt Kittelmann. Allerdings einer, auf den keiner hören will.

Der Bund wäre am Zug, die Mittel bereitzustellen für einen Erweiterungsbau, auch Kulturstaatsministerin Monika Grütters engagiert sich dafür. Darmstadt, Münster, Mannheim, Karlsruhe, Hannover haben in der jüngsten Zeit Ergänzungsbauten erhalten oder sie entstehen gerade, nur die Hauptstadt hinkt hinterher. Hier haben die Haushälter andere Prioritäten, zumal in der Kunst: das Humboldt-Forum, die Museumsinsel, auf dem gerade erst der Pergamonsaal, die Hauptattraktion des Ensembles, für fünf Jahre zwecks Sanierung geschlossen wurde.

Die Neue Nationalgalerie wird nun zu einem Zeitpunkt renoviert, zu dem es ihr an Perspektive fehlt. Bekanntlich ist auch Heiner Pietzsch ungeduldig, der seine Surrealisten-Sammlung für ein künftiges Museum der Moderne herzugeben bereit ist. In Dresden, der Geburtstadt des inzwischen 84-Jährigen, wächst mit jeder schlechten Nachricht aus Berlin die Hoffnung, dass seine Kollektion doch noch in die sächsische Hauptstadt, ins Albertinum gelangen könnte, wo sie schon einmal sehr schön zu sehen war.

Museumschef Udo Kittelmann verspricht eine Teilpräsentation nächsten Frühsommer

Welche Pläne gibt es eigentlich für das lange Interim bis zur Wiedereröffnung des Mies-van-der-Rohe-Baus? Was geschieht mit den Beständen in der Zwischenzeit? Die Daumenschraube bei den Liebhabern der Kunst anzuziehen, mag eine clevere Strategie sein. Doch sie muss auch zielführend sein, zumindest sollte es Aussicht auf Linderung geben.

Ausgerechnet in diesen letzten Wochen vor der Schließung hält Udo Kittelmann sich mit Auskünften über Ausweichquartiere und Zwischenprogramme der Neuen Nationalgalerie erstaunlich zurück. Die Einlagerung eines Museums, das 55 Jahre in Betrieb war, ist eine logistische Höchstleistung und fordert das ganze Team, ist von ihm zu erfahren.

Doch das befriedigt kaum. Die Menschen wollen Bilder sehen – und das gerade in Berlin als Stadt der Moderne, dort, wo sie errungen, von den Nationalsozialisten bekämpft und an ihren Platz im Museum zurückgeführt wurde. Im Moment haben Dix, Grosz & Co. in Schwäbisch Hall eine temporäre Heimstatt in der Kunsthalle Würth gefunden, die seit Mai für ein Jahr das erste Bestandsdrittel der Nationalgalerie präsentiert, die in Berlin 2010/2011 gezeigte Ausstellung „Moderne Zeiten“. Der Austausch ganzer Sammlungsblöcke unter den Museen während Umbauzeiten ist gute Sitte, nicht zuletzt hat davon auch Berlin profitiert, als das Museum of Modern Art und schließlich das Metropolitan Museum aus New York im Mies-van-der-Rohe-Bau zu Gast waren.

Interimsquartiere sind der Hamburger Bahnhof und die Alte Nationalgalerie

Erst für den Frühsommer 2015 gibt es nach Auskunft von Kittelmann konkrete Pläne. Ein Teil der Nationalgalerie-Sammlung soll in der Alten Nationalgalerie zu sehen sein, im Rahmen einer großen Impressionismus-/Expressionismus-Ausstellung. Ein weiterer Teil soll im Hamburger Bahnhof untergebracht werden: Über den Flügelbauten wird eigens ein Saal dafür hergerichtet. Hier kommen dann zeitgenössische Kunst und klassische Moderne zusammen, eine Kombination mit eigenem Reiz. Auch mit anderen Häusern in der Stadt will Kittelmann sich verständigen, um seine Schätze unterzubringen. Nur sei dies noch nicht spruchreif, weicht er aus. Er wolle den Kollegen nicht vorgreifen. Aber wann, wenn nicht jetzt, möchte die Öffentlichkeit wissen, wo die Sammlung der Neuen Nationalgalerie Asyl erhält? Die Schließung des Hauses zum Jahresende ist lange bekannt. Vorsorgliche Planung sieht anders aus.

Umso kostbarer der kurze Blick auf das Liebermann-Selbstporträt, auf seine forschenden Augen. Man ertappt sich dabei, dass man selber die Hände in die Hosentaschen schiebt. Und man steht vor dem Kirchner und denkt: Das soll sein Atelier sein? Der rote Flügel, auf dem zwei üppige Blumensträuße stehen, sieht eher nach Musikzimmer aus. In Liebermanns weitläufigem Studio kamen die Künste zusammen. Dann entdeckt man im Blaugrüngelb des Hintergrunds den Pariser Platz hinter den Fensterscheiben.

Was ist eigentlich mit Kokoschkas "Pariser Platz"-Bild, dessen Provenienz geklärt werden soll?

Von dort sind es nur ein paar Meter zum Potsdamer Platz, Titel des anderen, berühmtesten Kirchner-Gemäldes im Besitz der Nationalgalerie von 1914. Es entstand während Kirchners Berliner Phase, in der er das aufgewühlte Leben in der Stadt malte, wild, hektisch, expressiv. Sogleich kommt einem die „Berliner Straßenszene“ von 1913 in den Sinn, jenes andere Kirchner-Bild, das vor sechs Jahren vom Brücke-Museum restituiert wurde, die Geschichte machte Furore. Denn prompt gelangte es in den Handel, wo es für fast 30 Millionen Euro versteigert wurde. Heute ist es im Neuen Museum von Ronald S. Lauder in New York zu bewundern.

Auch die Stiftung Preußischer Kulturbesitz arbeitet ihre Restitutionsfälle ab. Erst im Frühjahr machte Präsident Hermann Parzinger von sich reden, als er überraschend das in seinem Büro hängende Kokoschka-Gemälde „Pariser Platz“ abnehmen musste, weil es unter dem Verdacht der NS-Raubkunst steht. Bislang wird der Fall noch geprüft. Anders verhält es sich mit zwei Werken aus dem Kupferstichkabinett, die just am gestrigen Dienstag restituiert wurden: eine Zeichnung von Julius Schnorr von Carolsfeld, das den jungen Künstler Friedrich Olivier zeigt, und eine Zeichnung aus der Hand des Freundes, auf dem zwei welke Blätter zu sehen sind. Die beiden Arbeiten stammen ursprünglich aus der Sammlung der Urenkelin Friedrich von Oliviers, die im April 1942 deportiert wurde und vermutlich im Ghetto Ozbica verstarb. Die Nationalgalerie erwarb die Bilder 1939 und 1941 auf Auktionen in Leipzig. Nun befinden sie sich bei den Erben.

Das ist das Stichwort. Peter Raue möchte am Dienstag in der Neuen Nationalgalerie, dass sich möglichst viele Anwesende an Manuela Martina Müller ein Beispiel nehmen werden, „wenn in 100 Jahren vielleicht Ihr Ende nahen sollte“. Dass auch sie, die gleich Champagner der bezeichnenden Marke Ruinart trinken, später an die Bedürftigkeit der Nationalgalerie denken. Natürlich appelliert er an die Großzügigkeit. Genauso nötig wäre der lange Atem einer Marathonläuferin.

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