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Kultur: Schneewittchen singt

Eiswürfelig schmiegt sich die Hülle in die Hand. Glatt wie ein Stück Gletscherzunge.

Eiswürfelig schmiegt sich die Hülle in die Hand. Glatt wie ein Stück Gletscherzunge. Und makellos schneewittchenweiß. Gut fühlt sich das an. Draußen ist es heiß, schon wieder so heiß, und man kühlt sich das Mütchen an Schuberts „Winterreise“, jenen 24 schauerlichen Liedern, die nun wahrlich nichts mit Winter oder Sommer oder mit irgendeiner äußeren Befindlichkeit zu tun haben. Auch das Booklet bleibt pur: ein kurzer, heftiger Text von Thomas Brasch, ein noch kürzerer des Komponisten, ansonsten die Müllerschen Gedichte. Keiner der üblichen Besinnungsaufsätze, keine schwärmerischen Künstlerbiografien, nicht der leiseste Schnörkel. Wobei man schon gerne wüsste, warum diese Aufnahme auf ihre Veröffentlichung in diesem Juli drei Jahre warten musste ...

Christine Schäfer ist Sopranistin, und sie singt die erste „Winterreise“, die direkt ins 21. Jahrhundert führt (onyx classics). Unprätentiös, fast protestantisch im Ernst des Zugriffs, cool in Timbre und Ton. Eine Distanzierung. Ein Tischleindeckdich. Nichts fehlt, und doch ist alles anders. Hurtiger, behänder, wie im Vorübereilen, ja wahnwitzig schnell. Mit 68 Minuten und 32 Sekunden schlagen Schäfer und ihr unerhört aufgeweckter Liedpianist Eric Schneider selbst die flottesten unter den rund 60 verfügbaren Gesamteinspielungen des Zyklus’ um satte vier Minuten. Das ist viel. Hier bringt sich eine Sache zu Ende. Ohne Zaudern. Hier wird ein Stück musikalische Innerlichkeit entrückt und landet vor unseren Ohren in der Vitrine. Als Schaustück. Als bewältigte Vergangenheit. Das ist mutig.

Cool freilich und artifiziell waren und sind auch andere: Ian Bostridge etwa, der Dorian Gray unter den Liedsängern, oder Christoph Prégardien, auf seine Weise, und bisweilen sogar der späte Fischer- Dieskau. Was bei Schäfer hinzu kommt (und dies vor allem leistet die hohe Lage, der Sopran!), ist eine aufreizende Naivität und Kindlichkeit. Dieses irre Zerbinetta-Lächeln schon bei „Fremd bin ich eingezogen“; dieses Unangekränkeltsein von allen Tümlichkeiten, das nicht nur den „Lindenbaum“ aus jeder Volksliedhaft katapultiert; diese Zielstrebigkeit im Tändeln, diese somnambule Tüchtigkeit. Schäfer singt mit dem Flügelschlag eines Schmetterlings, und Schneider – höchst erregend! – erzählt 24 Lieder lang davon, was romantischerweise gefühlt und gewusst, verdammt und vermisst, erlebt und erlitten werden müsste oder muss. Die „Winterreise“, ein Diskurs. Auch zwischen Frauen und Männern. Leerstellen markieren, Verluste beklagen, Bekenntnislasten abschütteln. Und neue, fremdartige Länder und Menschen erobern.

Eine solche Stellungnahme braucht absolut untadelige musikalische Voraussetzungen. Die hat sie. Schneider mag pianistisch nicht über die Inspiration eines Benjamin Britten verfügen und auch nicht über die Chuzpe eines Alfred Brendel: Sein Schubert wird von einer großen, entschlossenen Beredsamkeit getragen. Kein Lied bleibt charakterlich im Ungefähren, alles ist Haltung, Form, idiomatischer Ansporn. So metallisch die „Wetterfahne“ knattert, so frostig blühen die Blumen im „Frühlingstraum“. Und wenn sich Klavier und Stimme im „Leiermann“ endlich das Wort und die Hand geben, dann reißen keine manierierten Generalpausen Löcher des Entsetzens in die Musik; dann wird weitergespielt, lakonisch, brutal, demütig. Dann ist längst beschlossene Sache – spätestens seit dem „Wegweiser“ in seinem fast schleppenden, selbstvergessenen Parlando – wer hier mit wem zu gehen hat und wohin.

Die Kunst jedenfalls, in der Schuberts Alter ego zu überwintern trachtet, sie kennt kein Erbarmen. Von Andersens Mädchen mit dem Schwefelhölzern bis zu Büchners „Woyzeck“-Marie haben das vor allem Frauen erfahren. Nicht ganz zu Unrecht gilt Franz Schubert, das Schwammerl, der Pausback, der Schmerzensheld der Wiener Vorstädte, als weiblicher Komponist (im Gegensatz zum männlichen Beethoven und zum kindlichen Mozart). Einer, der intuitiv versteht, der Partei ergreift, für die Geschlagenen, die Outcasts und Untergeher.

Nun ist Christine Schäfer – glasklar deklamierend, lupenrein in der Intonation und mit kleinem, feinem, farbig-frechem Sopran – nicht die erste Frau, die sich an diesen Zyklus wagt. Ganze elf zählt die aktuelle Discografie, von Lotte Lehmann über Brigitte Fassbaender und Margaret Price bis Nathalie Stutzmann. Sie alle haben dazu beigetragen, dass sich auch in der Forschung das Bild des Winterreisenden wandelte: weg vom biedermeierlichen Wandersgesellen hin zum ästhetisch konstruierten Ich. Somit ist die Identifikation längst keine Frage mehr des Geschlechts, sondern eine des Gefühlshaushalts, des Sentiments. Und vielleicht eine der Emanzipation davon.

Schäfer – die im Gegensatz zu den Mezzosopranistinnen nicht transponieren muss, was den Liedern per se mehr Sauerstoff beschert – fügt diesem Haushalt nun eine Facette hinzu, über die man zunächst erschrickt: Sie traut sich nämlich, ironisch zu sein, ja operettig. Bei den rothenbergerisch gezwitscherten „Mädchenaugen“ im „Rückblick“, in der sängerischen Emphase des „Irrlichts“, wenn sich „uns’re Wehen“ plötzlich genauso hohl aufblähen wie „uns’re Freuden“. Und manchmal flüstert Schäfer auch bloß, beschwörerisch, lasziv. Hier spricht Lulu, da die Seeräuber-Jenny. Die „Winterreise“, ein Songspiel?

Im zweiten Teil schwinden diese Kräfte, erstirbt langsam, liedweise, sehr programmatisch jedes Tempo. Entschleunigung. Leben aushauchen. Klang werden. Töne wie aus Elfenbein geschnitzt. Das 21. Jahrhundert hat ein kaltes Herz. Und Schubert ein böses Vermächtnis.

Christine Lemke-Matwey

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