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Kultur: Schneewittchens Sarg

Weißrussische Vivisektionen: Alhierd Bacharevic und sein Roman „Die Elster auf dem Galgen“

Weißrussland, polemisierte kürzlich der Osteuropa-Journalist Ingo Petz, könne man leicht übersehen. Es sei ein reines Durchfahrtsland, eine terra incognita, über die Klischees vorherrschen, nicht zuletzt, weil Alexander Lukaschenko als „letzter europäischer Diktator“ dafür eine Folie liefert. Eine neue Internetseite über belarussische Literatur (www.literabel.de) beweist nun, dass das unbekannte weiße Land farbiger ist als wir meinen. Bislang zehn Autoren und Autorinnen werden dort zusammen mit ihren Übersetzern vorgestellt. Textproben, Interviews und Hintergrundinformationen erschließen die Vielfalt der zeitgenössischen Literatur, die keineswegs nur, wie Martin Pollack in seiner Dankesrede zum Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung anmerkte, als politische Manifeste zu lesen sind.

Das gilt, obwohl das politische Anliegen aus jeder Zeile spricht, auch für den 1975 geborenen ehemaligen Punksänger Alhierd Bacharevic, der heute mit seiner Familie in Hamburg lebt. Die weiße Leinwand ist in seinem nach dem gleichnamigen Gemälde von Pieter Bruegel dem Älteren benannten Roman „Die Elster auf dem Galgen“ Metapher für die Botschaften aus einem Land, das unschwer als seine frühere Heimat zu entziffern ist. So empfängt der namenlose Ich-Erzähler nach langer Pause eine Mail seiner Ex-Geliebten mit einem leeren weißen Blatt im Anhang, das ihn mit dem Gefühl zurücklässt, „weiter verfolgt“ zu werden und „jemandem etwas schuldig geblieben“ zu sein. An ihm, dem freiwillig Exilierten, ist es, diese Fläche auszumalen.

Die Geschichte der politisch unbedarften Vieranaka, die in einer Abteilung des örtlichen Sicherheitsdienstes gelandet ist, beginnt fünf Minuten vor ihrem Tod. Ausgehend vom Körper der einstigen Geliebten und „von außen betrachtet“, seziert der Erzähler das Leben in einem Land, das Andersdenkende nur als „Faschisten“ wahrnimmt und in Lager steckt, das jedoch für die Mehrheit der Bevölkerung, zu der Vieranaka gehört, unaufgeregt dahinfließt.

Allgegenwärtig ist die Beengtheit und Tristesse, die „träge Leere“ über den „streng rechtwinkligen Wegen“, die den einstigen „mit Blumengeschwüren übersäten Asphalt“ verdrängt haben. Deshalb verspürt Vieranaka eine „gewisse Sympathie für die Faschisten, das Böse“, das sie auch im ehemaligen Geliebten vermutet, flüchtet am Ende aber doch nur in die virtuelle Welt des Second Life. Als Sinnbild für das erstarrte Land generiert sie sich dort zunächst als Schneewittchen im gläsernen Sarg, dann als eine erlösungssüchtige sadomasochistische „Regima“.

Aus der Ferne und alternierend mit der Schilderung seines gegenwärtigen Lebens in einer unschwer als Hamburg zu erkennenden Hafenstadt, setzt der Erzähler das „Kristall-Puzzle“ Vieranaka wieder zusammen. Er beginnt bei den blonden Haaren, die in ihrer frühen Kindheit noch abrasiert worden waren, weil es sich so gehörte und die der Erzähler später so gerne wusch. Dann sind die Ohren an der Reihe, die gepiercte Nase, und schließlich die Kinderzunge, die an Frosttagen an den Eiszapfen der Schaukel festfriert. Beim Tausch der ersten Küsse ist es wieder die Zunge, die mit „titanischer Härte“ in den Rachen stößt und schließlich seine Zunge, von der die verliebte Vieranaka ein blondes Frauenhaar klauben darf. Im Zentrum der poetischen Sektion aber stehen die Zähne, die Bacharevic in Analogie zu Poes Erzählung „Berenices Zähne“ aufruft.

Mit dem „horizontal geführten“ Skalpell fährt Bacharevic durch Vieranakas Körper, der Schnitt T-förmig, „vom Kinn zur Schambeinfuge“, „durch Haut- und Unterhautgewebe“ hindurch, schließlich die Bauchhöhle öffnend und die Rippen freilegend: „Man schaut. Schreibt.“ Wie bei Bruegels Gemälde, bei dem der Betrachter die Elster auf dem Galgen auch erst nach und nach wahrnimmt, erschließt sich für den Erzähler nicht nur Vieranaka neu, sondern auch seine eigene Existenz als Exilant.

Ihn hätten die Körper interessiert, sagt Bacharevic in einem Interview, die diese Staatsmaschine in Gang hielten, er wollte wissen, wie sie sich fühlten. Vieranaka sei im Grunde eine tragische Figur und die anatomische Perspektive habe ihm erlaubt, zu beschreiben, wie ein solches Schräubchen im System funktioniert. Bei dieser Prozedur fordert der Autor seinen Lesern einiges ab, nicht nur, weil sein „Gemälde“ leseunfreundlich klein gesetzt ist und die Ausstattung des Bandes an verflossene Ost-Produkte erinnert.

Allen Erzählkonventionen trotzend, zwingt Bacharevic Ereignisse und Bilder immer wieder neu zusammen. Obwohl Übersetzer Thomas Weiler Herkulesarbeit geleistet und auf literabel.de außerdem einen schönen Begleitessay eingestellt hat, wirkt der Roman überfrachtet: Zu viele Metaphern, zu viele Verzweigungen und Abschweifungen. Für die literarischen Anspielungen musste der Autor eigens einen Anmerkungsapparat anhängen. „Die Elster auf dem Galgen“ ist ein Experiment, das sich unbedingt lohnt zur Kenntnis zu nehmen, auch wenn der Erzählzauber hin und wieder politische Schwarz-Weiß-Malerei betreibt.

Alhierd Bacharevic: Die Elster auf dem

Galgen. Roman. Aus dem Weißrussischen von Thomas Weiler.

Leipziger

Literaturverlag 2011.

288 Seiten, 29,95 €.

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