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Kultur: Schnitzeljagd durchs Diskursterrain

Integrationsdebatte als Performance: das „100 Grad“-Theaterfestival in Berlin

Noch bevor es richtig losgeht, steht einer aus dem Publikum auf und beginnt eine wirre, kaum zu bremsende Suada. Die ganze Islam- und Integrationsdebatte der jüngeren Vergangenheit hat sich in seinem Kopf zu einem explosiven Meinungsgebrodel vermengt: „Es gibt eine beispiellose Hetze gegen das größte Politiktalent seit 1933“, schreit der Mann mit Blick auf Sarrazin. Und: „Kennen Sie Sarah Palin? Wir brauchen eine Tea-Party-Bewegung für Deutschland!“ Die Schauspieler des Stückes „Weißbrotmusik“ versuchen ihn zu beschwichtigen, unter den Zuschauern kommt Unruhe auf.

Das ist doch mal heiteres politisches Theater – die Szene ist täuschend gut inszeniert. Und ein schöner Auftakt des achten „100 Grad Berlin“-Festivals, dieser viertägigen Marathon-Schau der Freien Szene im Hebbel am Ufer und in den Sophiensälen. „Weißbrotmusik“ (Regie im HAU: Nick Hartnagel) stammt von der jungen UdK-Absolventin Marianna Salzmann und erzählt von muslimischen und jüdischen Jugendlichen, die mit Religion nichts am Hut haben, aber sich aus dem Kontext der hysterischen Zuschreibungen nicht befreien können. Klar, die Autorin ist längst vom Stadttheater entdeckt worden. Aber im besten „100 Grad“-Fall ist die Kategorisierung nach Freie Szene oder Subventionsbühne sowieso egal.

Talu Emre Tüntas besitzt ähnliche Theaterkraft. Er liefert die Punk-Variante der Migrations-Musik, „Blanca Terror“ heißt seine Inszenierung im Foyer des HAU 2. Mit der Kettensägen-Wucht von „La Fura dels Baus“ fegen seine Spieler unter die Zuschauer und lassen den ganzen Missklang des Muslim-Terror-Boheis in einer radikalpoetischen Performance detonieren. Auf dem Mehringplatz unweit des HAU nähern sich ein paar Kindern mit Migrationshintergrund. Ein Junge fragt, ob er bitte den MP3-Player und die Kopfhörer haben könnte, mit denen man von der Gruppe „Invisible Playground“ ausstaffiert wurde. Tja, leider nein. „Warum nicht? Nur weil ich Ausländer bin? Du Nazi!“, ruft das Kind.

Herrlich, wenn Inszenierung und Wirklichkeit ihre Trennschärfe verlieren. Was bei „Invisible Playground“ durchaus Teil des Konzepts ist. Das Kollektiv veranstaltet so genannte Street-Games. Schnitzeljagd-mäßig bewegt man sich in Gruppen durch das urbane Meer der Spielplatz-Möglichkeiten, kämpft nach Ninja-Art gegeneinander, muss sich im Rhythmus der Kopfhörer-Beats und nach bestimmten Regeln aneinander vorbei bewegen. Ein großer Spaß.

Angesichts der überbordenden Gleichzeitigkeit von bis zu sechs parallelen Stücken oder Aktionen kann man auf dem „100 Grad“-Festival zwar nur begrenzt Trends ausmachen. Aber die Metamorphose vom Spiel zum Game ist auf jeden Fall eine der interessanteren Erscheinungen in diesem Jahr. Die Gruppe „machina eX“ bringt Point-&-Click-Adventures auf die Bühne, Computerspiele also, bei denen man Rätsel lösen muss, damit die Handlung vorangeht. In der sehr originellen, lebensechten Interaktions-Variante soll man helfen, einen Professor zu retten, an dem eine Zeitbombe tickt – die Performer bewegen sich nach Bildschirm-Art nur dann weiter, wenn man als Gruppe im Labor-Setting der Bühne bestimmte Aufgaben geknackt hat.

Ansonsten, soweit überblickbar: kein schlechter Jahrgang. Malte Schlösser zeigt in den Sophiensälen einen Work-in-Progress-Abend unter dem Titel „Kann ich deinen Diskurs mal in den Mund nehmen?“, der ein sehr Réne-Pollesch-haftes Unbehagen am Verabredungstheater formuliert. Andernorts erzählen zwei Ernst-Busch-Studenten völlig unbeeindruckt davon eine illusionsgläubige Liebesgeschichte auf dem Tandem („Lärm ist das Geräusch der anderen“). Das Schöne: Man muss das alles nicht gegeneinander ausspielen. Es gilt nur, was der Schauspieler Fabian Hinrichs so treffend sagte: „Wie überhaupt im Leben merkt man nach spätestens fünf Minuten, ob es gut ist oder nicht.“

Nochmals am heutigen Sonntag ab 16 Uhr im HAU und in den Sophiensälen. Preisverleihung um 23 Uhr im HAU.

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