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Kultur: Schockierende Siegestänze

In der Frankfurter Oper macht Falk Richter Strauss’ „Elektra“ gegenwärtig

Leichen säumen Elektras Triumph. Das ist das Ende, wenn die Toten in schwarzen Säcken gereiht werden oder verstümmelt an Haken baumeln. Eine Konsequenz des alltäglichen Grauens. Zunächst empfängt den Zuschauer in roter Leuchtschrift über unbehauster Bühne eine Folge von Textpassagen aus „Elektra“. Er wird auf die Extreme der Dichtung Hofmannsthals gestoßen, noch ehe ein Ton der Partitur erklingt. Zum Beispiel: „Und über Leichen hin werd ich das Knie hochheben Schritt für Schritt.“

Über Leichen? Die Stelle im Eröffnungsmonolog der Titelheldin wird gern vom Gefühl überschwemmt, weil die Musik von der bedingungslosen Treue Elektras zu ihrem ermordeten Vater Agamemnon singt, von ihrer Menschlichkeit gegen die Unmenschlichkeit der Mutter Klytämnestra, von der Liebe der Agamemnonskinder Elektra und Orest. Dieses Hören verdankt sich dem Komponisten Richard Strauss, der gleichzeitig mit seinem revolutionären Vorstoß ins 20. Jahrhundert, seiner Nervenkontrapunktik, seinem Hass-Motiv, seiner dramatischen Wucht den Wegweiser zum „Rosenkavalier“ aufstellt. Selbst die Melodik der Elektra gerät in den Sog der lyrischen Weichheit, wo es um die Sehnsucht der Schwester Chrysothemis geht, Kinder zu haben und ein „Weiberschicksal“. Und welches musikalische Ohr könnte sich dem süßen Thema der Agamennonskinder verschließen, das den gewaltigen Elektra-Stoff aus der griechischen Antike an unser Herz legt? Aber auch das Glitschen des Mordblutes hat seine Akkordkette und die Schöpfung Hofmannsthals aus feiner Wortkunst ihre Schreckensvision, die ins 21. Jahrhundert weist.

An der Oper Frankfurt ist Regisseur Falk Richter, bisher meist für die Berliner Schaubühne tätig, so frei, die beängstigende Zukunftsvorstellung beim Wort zu nehmen: Über Leichen hin. Dem Folterstaat der Klytämnestra, der operettig verfremdet ist, aber doch die Gefängnissignale von Abu Ghureib trägt, folgt der Unrechtsstaat der Sieger, mindestens dessen Vision. „Überall, in allen Höfen, liegen Tote“, sagt Chrysothemis, um in ihren gewaltigen Jubel über die Befreiungstat des Orest auszubrechen: „Und doch strahlen alle.“ Richters Deutung geht davon aus, dass die Musik der Läuterung und des Lichts täuscht. Die Notwendigkeit, den Mord zu wollen, hat mit Terrorismus zu tun. Richter ist in der Personenführung auf der Opernbühne ein Naturtalent, dem nur wenige Schnitzer unterlaufen. Wie aber ein Botenbericht über die Szene fliegt, wie die Schwestern mit starken Armen kämpfen, wie Mutter und Tochter mit hinterhältigem Interesse kaschieren, dass sie sich zutiefst nicht leiden können, wie die Ältere in jugendlichem Machtwahn über ihren Laufsteg (Bühne: Alex Harb) tänzelt, wie der Kriegermantel des toten Agamemnon wechselnde Zeichen setzt, wie das Beil als Waffe durch die Pistole Orests ad absurdum geführt wird – das sind große Momente.

Zu einer funktionierenden Wiedergabe des Werkes gehört die Textdeutlichkeit, wie sie unvergesslich der Dirigent Karl Böhm bei der Probenarbeit zu seiner späten „Elektra“-Aufnahme eingefordert hat. Paolo Carignani, GMD in Frankfurt am Main, bleibt dieser Forderung treu und hält sich bei aller Härte an die dynamischen Vorschriften, um den Sängern zu dienen. In der Partitur klingen bei Carignani Kammermusik und alle Schönheiten auf, die das Museumsorchester faszinierend und ohne Sentimentalität verteidigt. Susan Bullock ist eine überwältigende Elektra, gesungene Ekstase und zurückgenommene Dialogpartnerin der leisen Klytämnestra Ingrid Tobiassons. Dafür röhrt Peteris Eglitis als Orest, während Ann-Marie Backlund die zweite Sensation bietet: eine Chrysothemis von grenzenloser Emphase.

„Königliche Siegestänze“ – was ist das? Falk Richter will, dass sie schockieren.

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