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SCHÖNE Grüße (5): Zippel, der die Welt bedeutet

Ab in die Ferien! In diesen Wochen frönen viele Menschen einer selten gewordenen analogen Tätigkeit: Sie schreiben Postkarten.

Ab in die Ferien! In diesen Wochen frönen viele Menschen einer selten gewordenen analogen Tätigkeit: Sie schreiben Postkarten. Anlass für eine kleine Sommerserie.

Meine Freiheitsstatue war das Maneken Pis, der kleine Bronzeknabe, der seit ein paar hundert Jahren in einen Brüsseler Brunnen pinkelt, am Welt-Aids-Tag ein Kondom über den Zipfel bekommt, an anderen Tagen anders kostümiert wird und offenbar für die Brüsseler eine identitätsstiftende Wirkung entfacht. Dass die Belgier komisch drauf sind, hätte ich damals ahnen können, aber die Karte bekam ich, als ich sieben war. In dem Alter nimmt man es noch hin, dass man um acht ins Bett muss, den Teller nicht ablecken darf, und dass die Einwohner der wichtigsten Stadt der Welt einen Bronzepinkler zu ihrem Wahrzeichen erklären.

Selbstverständlich war Brüssel die wichtigste Stadt der Welt. Brüssel war im Westen, dort, wo es Lego zu kaufen gab, und wo ich niemals hinkommen würde, und mein Vater fuhr dorthin. Wäre er nach New York gefahren, hätte ich diese Stadt für wichtig gehalten, wäre er nach Sindelfingen gefahren, wäre es Sindelfingen gewesen. Aber die Brüsseler haben ihn eingeladen, bei ihnen ein Kindertheaterstück zu inszenieren, also fuhr er zu ihnen und schickte mir von dort Postkarten mit den Brüsseler Wahrzeichen. Das Atomium fand ich auch sehr beeindruckend: Es hatte natürlich viel mehr Kugeln als unser Fernsehturm.

Zu meinem siebten Geburtstag schrieb mein Vater auf so eine Brüsselkarte sehr enttäuschende Zeilen: „Ich werde viel an Dich denken, aber ein Geschenk kannst Du erst kriegen, wenn ich wiederkomme. Ein schönes Eisenauto – einverstanden?“ Dass er nicht wusste, dass die Dinger Matchbox hießen, sah ich ihm nach. Dass er vergessen hatte, dass ich mir Lego gewünscht hatte, und zwar irgendwas ganz großes, das nicht. Woher sollte ich wissen, wie teuer Lego war, und wie wenig Westgeld er beim Kindertheater verdiente, und dass er davon auch noch einiges einem hässlichen Dicken namens Schalck-Golodkowski abzugeben hatte?

Die Postkarten aus Brüssel habe ich aufgehoben. Sie liegen in einem Fach zusammen mit den Gojko-Sammelkarten. Man könnte es das „Es-war-nicht-alles-schlimm-Fach“ nennen. Denn schlimmer als Piere Brice war Gojko Mitic auch wieder nicht, und was soll schlimm daran sein, wenn sich ein Siebenjähriger nach einer Welt sehnt, deren Wahrzeichen das Maneken Pis ist?

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