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Europa und Union Jack. Flaggen vor Westminster.

© dpa

Schottische Schriftstellerin zum Brexit: Wir hatten die Sterne und griffen nach dem Mond

Brexit und nun? Eine schottische Berlinerin schreibt über Europa - und gibt sieben Empfehlungen an Westminster.

Mein Tagebuch vom 10. Januar beginnt mit dem Eintrag: „Teichhühner ziehen die schönsten konzentrischen Kreise.“ Ich war von meinem allwöchentlichen Rundgang um den Schlachtensee zurückgekehrt. Mit seinen Pinien, Eichen, Buchen, Silberbirken und hin und wieder einer Eberesche, die mich an die Hügel meines heimischen Aberdeenshire erinnert, lässt sich der Wandel der Jahreszeiten dort wunderbar beobachten.

Zugleich kenne ich selbst die konzentrischen Kreise einer Rückkehr nach Berlin, das schon einmal meine Heimat war: ein vertrauter, doch inzwischen stark veränderter Ort, an dem die Debatten der 90er Jahre, wie man den Schrecken der Vergangenheit ein Denkmal setzen kann, etwas Unübersehbares entstehen haben lassen, das heute zum Charakter der Stadt gehört. Ich bewundere diesen Aspekt von Berlin und betrachte es auch deshalb gerne als mein Zuhause. Wer mich kennt, weiß, dass Musik, Literatur und Freundschaften – und ja: die Seen – dazu beigetragen haben, dass meine Rückkehr unausweichlich wurde. Ich brauchte aber eine Weile, um das zu begreifen.

Eine Identität, viele Prägungen

In eine Stadt zurückzukehren, die für mich schon in jüngeren Jahren Heimat und abenteuerliches Wagnis war, erwies sich als ebenso verführerisch wie kompliziert. Meine neue, vertiefte Liebesbeziehung brauchte ihre Zeit. Nun aber wiesele ich durch ganz Berlin und besuche alle möglichen Behörden. Ich melde mich zu Sprach- und Einbürgerungstests an und bündle die Belege, die sich im Lauf meiner einstigen neun Jahre in Deutschland angesammelt haben, während ich gleichzeitig dokumentiere, dass auch meine Jobs im Vereinigten Königreich die deutsch-englischen Beziehungen in einem europäischen Sinn voranbringen wollten.

Wir alle plagen uns mit Identitätsfragen herum. Wie gehe ich mit ihnen um? Wenn ich bestimmte Musikstücke höre, bin ich Schottin bis ins Mark; wenn ich die Luft von Cairngorms atme oder das köstliche Leitungswasser von Aberdeen trinke, ist dies ein Teil von mir. Ich bin die Studentin, die sich schüchtern in den Süden, nach Oxford, aufmachte, um dort die besten Freunde und Freundinnen zu finden, die ein Mädchen nur haben kann. Auch London, wo ich die Zeitschrift „New Books in German“ herausgab, war über Jahre mein Zuhause. Manchester, das walisische Bücherdorf Hay-on-Wye und die schottischen Inselwelten von Skye, Orkney und Shetland – all diese Orte haben mich zu dem gemacht, was ich bin.

Der Brexit hat mich in Atem gehalten

Ich kann aber auch behaupten: Ich bin Berlinerin. Eine schottische Berlinerin, die glaubt, dass in einer reformierten Europäischen Union eine großartige Zukunft liegen könnte. Ich möchte, dass meine Patenkinder und mein Großneffe die Gelegenheit haben, die Freiheiten eines Arbeitens, Lebens und Liebens im Ausland mit derselben Ungezwungenheit genießen können, wie wir es einst taten. Wir hielten diese Freiheiten wohl nur für allzu selbstverständlich.

Die konzentrischen Kreise des Brexit haben mich wie so viele in den letzten Wochen in Atem gehalten: die unmittelbar persönlichen, die von Verwandtschaft und Gesellschaft, die des gesamtes Landes und weit darüber hinaus.

Im Januar begab ich mich mit dem Zug auf eine „Winterreise“ durch vereiste Schneelandschaften. Ich reiste zu politischen Debatten nach Dresden, München und Hamburg. Die von der britischen Botschaft organisierten Veranstaltungen wurden lebendig durch die individuellen Geschichten der Bürgerrechtler von „British in Germany“, die wiederum ein Teil von „British in Europe“ sind. Ich erlebte viele Alice-im-Wunderland-Momente, die von der offiziellen Regierungslinie nicht gedeckt waren. Das Ganze war eine Angelegenheit von höchster britischer Höflichkeit, auch wenn es geboten schien, einigen unausgesprochenen Wahrheiten Gehör zu verschaffen. Die Stimmung schlug von Ungläubigkeit in leidenschaftlichen Zweifel am Einreißen der jahrzehntelang glücklichen Lebens- und Arbeitsbedingungen um, und von da zu Trauer und tiefer Müdigkeit.

Richtet keinen Schaden an und hört zu!

Dennoch ist es für eine Bestandsaufnahme vielleicht noch nicht zu spät, und es ist möglich, anders weiterzumachen. Vielleicht leistet eine Checkliste wie die folgende im gegenwärtigen politischen Schlamassel gute Dienste. Hier meine sieben Empfehlungen an die Politiker von Westminster.

1) Richtet keinen Schaden an! Erinnert euch an eure Form des hippokratischen Eids. Hört auf die Stimmen jenseits der spalterischen Schwätzer und ihrer unermüdlich wiederholten Formeln. Hütet euch vor den Debattierkünstlern, die sich bei jedem Thema auf jede beliebige Seite schlagen können. Besinnt euch auf eure moralische Pflicht, dem Nutzen und Frommen des Landes zu dienen, und unterstützt nicht die Abwickler.

2) Seid mutig! Traut euch zu sagen: „Wir haben unser Bestes gegeben, um Argumente für eine Entscheidung zu finden, bevor deren schiere Komplexität manifest wurde. Nun aber kommen wir zu dem Schluss, dass es der Nation am meisten dient, in der Europäischen Union zu bleiben und sie mit der Unterstützung all derer von innen heraus zu reformieren, die wir gerne von Neuem in aller Ehrlichkeit unsere Freunde und Verbündeten in Europa nennen würden.“ Findet sodann den Mut, Artikel 50 durch einen klaren Parlamentsbeschluss zurückzunehmen, oder gebt den Bürgern des Vereinigten Königreichs erneut die Chance, das Trümmerfeld der letzten zwei Jahre mit offenen Augen zu betrachten.

3) Arbeitet an der Versöhnung! Dies tut dringend not. Eine parteiübergreifende Versöhnungsgruppe sollte eingesetzt werden, um die durch die Einberufung des Referendums von 2016 entstandenen Gräben zu beseitigen.

4) Schafft eine parteiübergreifende Notregierung! Eine derart gemischte Regierung, die auf eine nationale Einheit hinarbeitet, die geeignet ist, die Risse im Boden nach dem Erdbeben zu schließen.

5) Hört zu! Eine Politik, die allen Stimmen im Lande wirklich zuhört, ist vonnöten. Jeder von uns übernimmt dabei eine Aufgabe, nachdem wir gelernt haben, wie schnell die Perspektiven auseinanderklaffen. Wir müssen auf lokaler Ebene Foren für regelmäßige Zusammenkünfte zwischen Regierungsverantwortlichen und Bürgern schaffen.

6) Kümmert euch um die Mitglieder des Europäischen Parlaments: Es wird Zeit, sie sehr viel ernster als bisher zu nehmen. Reformen von innen heraus sorgen dafür, dass wir ihre Rolle im großen Ganzen verstehen. Wir müssen den Europa-Parlamentariern zutrauen, im Angesicht kooperationsunwilliger Kräfte Gegenerzählungen zu formulieren. Nur so besteht Hoffnung, dass bei den bevorstehenden Wahlen in Brüssel und Straßburg europafreundliche Kräfte Fuß fassen, die auch uns zugute kommen.

Die Europäische Union ist die beste Idee, die wir je hatten

7) Achtung, Extrapunkt: Der Naturforscher und Tierfilmer David Attenborough sollte zu einer monatlichen, landesweit ausgestrahlten Ansprache nach Westminster eingeladen werden, in der er uns daran erinnert, dass wir alle Komparsen im Schauspiel dieses schönen Planeten Erde sind. Wir müssen ihn gemeinsam schützen.

An einer Fliese meines Berliner Badezimmers hängt eine Postkarte mit William Blakes Stich „Ladder Moon“. Er zeigt zwei sich umarmende Figuren in sternenbeschienener Nacht, während eine dritte Figur eine Leiter zum Mond aufstellt. Die Bildunterschrift lautet: „I want! I want!“. Dieses Bild scheint mir das britische Rätsel auf den Punkt zu bringen: Wir hatten so viel, tatsächlich hatten wir die Sterne, aber wir griffen nach dem Mond. Das letzte Wort möchte ich Jürgen Klopp, dem Teammanager des FC Liverpool, überlassen: „Die Europäische Union ist nicht perfekt, aber sie ist die beste Idee, die wir jemals hatten. In der Vergangenheit gibt es keinen einzigen Beleg dafür, dass eine Abspaltung Erfolg hatte.“ Lasst uns mutig sein und die Versöhnung in Angriff nehmen.

Die gebürtige Schottin Rebecca K. Morrison lebt als Journalistin, Literaturkritikerin und Übersetzerin in Berlin. – Aus dem Englischen von Gregor Dotzauer.

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