zum Hauptinhalt
Vernagelt. Ricardo Darín als mürrischer Eisenwarenhändler Roberto. Foto: Ascot Elite

© dpa

Kultur: Schrauben lockern

Zurück ins Leben: „Chinese zum Mitnehmen“.

Wohin führt ein Film, dessen heimliche Hauptfigur die Einsamkeit ist? In eine Nische, in der sich die Zeit faltet wie vergilbte Zeitungen. In eine Ausbuchtung vom Strom des Lebens, in der das Wasser wie in Pfützen steht. Roberto (Ricardo Darín) hat sich hinterm Tresen seiner Eisenwarenhandlung in einem verschlafenen Winkel von Buenos Aires verschanzt. Er zählt die Inhalte sämtlicher Schraubenpäckchen nach, die er geliefert bekommt. Die angegebene Zahl stimmt nie. Roberto wütet. Den wenigen Kunden, die er nicht gleich mürrisch wegbeißt, wickelt er mehr Nägel ein, als sie bezahlt haben.

So schleicht Robertos Leben dahin, zwischen dem Friedhof, auf dem längst die Eltern liegen, dem Graukittelalltag und dem nächtlichen Durchforsten alter Zeitungen. In ihnen findet der müde Endvierziger Belege für sein resigniertes Credo: Das Leben ist absurd, alles ist sinnlos. In dicken Alben versammeln sich Meldungen von tragischen Todesfällen. Sie könnten zum Lachen oder zum Heulen bringen. Roberto verzieht keine Miene und löscht das Licht, Punkt 23 Uhr, wie jeden Abend.

Bis ihm plötzlich Jun (Huang Sheng Huang) begegnet, eine traumatisierte chinesische Halbwaise. Jun will Zuflucht bei seinem Onkel in Argentinien finden. Roberto und Jun verstehen kein Wort von dem, was der andere sagt. Das bringt Leben in die Gesichtszüge des Eisenhändlers: Wegschauen vom Schicksal eines anderen, das geht nicht mehr, auch nicht mehr die Haltung, niemanden um sich herum zu ertragen. Roberto rettet sich mit einem Plan, der die Schöpfung zurücknimmt: Wenn nach sieben Tagen der unbekannte Onkel Jun nicht mitnimmt – dann fliegt Jun wieder auf die Straße.

Regisseur Sebastián Borensztein nutzt die Fliehkräfte des culture clash, um Roberto aus seiner Verkapselung zu reißen. Robertos Herz rebelliert, als er Jun einem rassistischen Polizisten überlassen soll. Wenn Jun verständnislos in Blutwurst und Lammhoden stochert, belebt sich Robertos Stimme. Sein scheuer Mitbewohner mit dem traurigen Blick lässt die Grundmauern der Einsamkeit erzittern, jenen Bollwerken, die sich für einzigartig halten.

Ricardo Darín als Roberto auf seinem widerstrebenden Weg ins Leben zuzusehen, ist ein besonderes Vergnügen. Der argentinische Schauspielstar, der mit „El secreto de sus ojos“ den Oscar für den besten ausländischen Film 2010 gewann, ist derart vernagelt und verschraubt in sein Schicksal, dass ihn selbst die Blicke der blühenden Mari (Muriel Santa Ana) nicht dahinschmelzen lassen.

Mit zärtlicher Bedachtsamkeit in der Inszenierung und einem Sinn für jene Sorgfalt, das Aufeinanderprallen der Kulturen nicht für Klamauk zu verpulvern, ist Borensztein ein kleiner Film gelungen, der zu einem großen Festivalerfolg wurde. Sein heimlicher Hauptdarsteller hat darin einen märchenhaften Abgang.

Cinemaxx, Filmkunst 66, Kulturbrauerei, Moviemento, Toni; OmU in den Hackeschen Höfen

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false