zum Hauptinhalt

Kultur: Schrei ohne Zunge

Elmar Goerden inszeniert Botho Strauß’ „Schändung“ mit Bruno Ganz in Bochum

Die weite Bühne des Bochumer Schauspielhauses könnte die Ankunftshalle eines Flughafens vorstellen. Wer da aus der Tiefe der Szene hin zum Publikum tritt, erblickt über sich in wuchtigen Versalien das Wort „Roma“. Hier ist Rom. Aus der Zuschauerperspektive aber sehen wir den großen Schriftzug: „Amor“.

Dieses Spiel mit dem Anagramm enthält bereits eine ironisch bittere Lesart des Stücks. Denn Botho Strauß’ „Schändung“, diese Nacherzählung und Umdichtung von Shakespeares elisabethanisch-römischem Schauerdrama „Titus Andronicus“, vermischt Krieg und Liebe, den Kampf der Kulturen, Zeiten und Geschlechter, bis nach dem grässlichen Schlachten am Ende ein Kind die Botschaft der Versöhnung, des Friedens gar verkündet. Roma vincit, amor vincit?

Zum Sieger und neuen Kaiser Roms indes erklärt sich kein Cupido-Knabe, sondern nur ein kleiner Träumer in Turnschuhen von heute. Womöglich ein Gernegroß, der sich in das Historiendrama hineingesponnen hat wie in ein Videospiel mit Fantasyrittern. Ein Märchen nur, erzählt von einem dummen Jungen?

Botho Strauß lässt diesen Schluss bewusst offen. Drei Stunden lang gleichen die Blutbäder einem Whirlpool der Zeiten; das alte Rom ist von den neuen Goten bedroht, die der Weltkulturhauptstadt mit barbarischer Vitalität begegnen. Doch Rom, das hier auch für die EU oder überhaupt den Westen stehen kann, wirkt seinerseits längst degeneriert, von innerer Gewalt und Korruption zerfressen. Nur der ergraute Feldherr Titus steht und fällt als letzter Atavist: So opfert er einen Sohn der um Mitleid flehenden, von ihm als Kriegsbeute nach Rom geschleiften Gotenkönigin Tamora den alten Göttern: treu und herzlos, wie es ein überkommenes Gesetz befiehlt. Worauf Tamora, als Sexbombe inzwischen zur Frau des neuen römischen Kaisers Saturnin erkoren, ihre beiden übrigen Söhne auf Titus’ Tochter Lavinia hetzt, die sie vergewaltigen, ihr Zunge und Hände abschneiden. Wie bei Shakespeare. Das ist die Schändung.

Als sie geschehen ist, in Bochum hinter einer Schiebewand, und die junge Schauspielerin Louisa Stroux blutbeschmiert, halbnackt auf dem fast bühnenfüllenden Spielpodest zur Rampe wankt, nimmt sie Vater Titus erstmals in die Arme. Es ist der bewegendste Auftritt der Inszenierung des neuen Bochumer Intendanten Elmar Goerden. Denn Bruno Ganz, der den alten Römer mit weißer Toga überm schwarzen Staatsanzug mit Springerstiefeln spielt, er verkörpert in wenigen Sätzen, mit kurz in die Luft geschraubten, im Schmerz um sich tanzenden Fingern den im eigenen Vatermannesstolz gekränkten Haudegen. Spielt, vom Harschen ins Zärtliche wechselnd, auch das doppelt gebrochene Herz. Er sinkt nieder, mit Lavinia, und nochmals scheint der fahle, kahle Kopf verwandelt. Sein Gebet („nicht sehr fromm gebetet“) wird dreimal zum „Rache!“-Schrei, mit plötzlich vorbleckenden Zähnen. Wie ein Raubtier, wie ein toller, wütiger Wolf. Und bleibt doch, obwohl ihm die Rache später gelingen wird, ein armer alter Hund.

Straußens neuer Einfall ist es, einen der Schänder, Chiron, den Angst und Reue nach dem Gewaltrausch wie Erinnyen umtreiben, durch Liebe zu Lavinia zurückzuführen. Im panisch-manischen Versuch des Täters, an seinem Opfer etwas gutzumachen durch einen Akt versöhnender Wiederholung. Und auch Lavinia, die nunmehr mit metallischen Armstümpfen sowie einer Dolmetscherin, dem „Tragemund“ Monika, bei ihrem pensionierten Vater lebt, sie sucht zungenlos gurgelnd noch als lebende Ruine Reste ihrer Lebens- und Liebeslust. Das ist eine peinliche, peinigende Geschichte, die für beide tödlich endet. Gewalt lässt sich nicht durch gewaltsamen Versöhnungswillen heilen. Doch geht es Strauß auch um das: um eine wohl letztmögliche amour fou. Spielen lässt sich die freilich nur auf höchstem Niveau. Wie auch Lavinias Schändung. Es bedarf der inszenatorischen Raffinesse, einer leidenschaftlichen Diskretion: kühn, körperlich, formbewusst.

Elmar Goerdens Inszenierung aber bleibt über weite Strecken sonderbar posenhaft, unkörperlich, spannungslos. Weil seine Akteure sich ihre Sätze oft über große Distanzen nur zuwerfen, sich selbst im Begehren oder Verführen, im Zorn oder in Bedrängnis kaum nahe kommen. Wie tönende, hohltönende Figurinen stehen sie meist frontal zum Publikum, zeigen sich nur den kalten Rücken oder die lauwarme Schulter. Warum die Opfer oder Gefangenen vor ihren Peinigern nie fliehen, bleibt ein Rätsel, da es bei den unbeholfen steifen Arrangements keine Einkreisung, kein Umzingeln und keine je spürbare Bedrohung gibt. Auch finden die Spieler keinen Halt in der flughafenartigen Halle – in die jeder reinkommt und in der doch keiner ankommt. Nicht bei sich oder beim anderen. Die im diffusen 50er-Jahre-Stil möblierte Szene wird so zur ort- und zeitlosen Isolierstation (Bühnenbild Silvia Merlo, Ulf Stengl), von den scheußlich beliebigen Kostümen zu schweigen.

Selbst für den großen Gaststar Bruno Ganz, der hier als harscher Feldherr und Rächer an seinen Odysseus in Straußens „Ithaka“-Drama vor 10 Jahren in München anschließt, ist es trotz aller Vergegenwärtigungskunst erkennbar schwer, den Abend zu beleben. Einen persönlichen Ton, eine eigene Farbe bringen neben ihm nur die mädchenhaft klare Louisa Stroux als Lavinia und Peter Kremers melancholisch verschatteter Kaiser Saturnin ins Spiel. Wobei aus dem redeunsicheren, stotternden Potentaten, wie Strauß ihn vorschlägt, hier eher ein lässiger Elegiker geworden ist. Ohne Bindung an seine intrigenscharfe Gattin Tamora, die Ulli Meier trotz Tattoo auf dem Rücken und zwischenrein etwas barer Brust ins Künstliche, ins körper- und seelenlos Aseptische entwirklicht. Schon als Gefangene des Titus stakst die entehrte Gotenkönigin hochtoupiert und im bürgerlichen Abendkleid auf die Szene, und wenn von der geilen, wilden „Barbarin“ die Rede ist, dann deklamiert hier eine adrette, im Grunde unbeteiligte Wiener Hausfrau. Beauty und Biest stecken in jedem und jeder von uns? Für diese schlichte Botschaft brauchte es wohl kein Theater mehr.

Dabei war man so gespannt gewesen. Bruno Ganz wollte den Titus ursprünglich am Berliner Ensemble spielen. Aber dort kam er mit dem Regisseur Claus Peymann nicht zurecht. Darum fand die Uraufführung letzten Herbst auf Französisch statt, und demnächst gastiert die Pariser Strauß-Inszenierung von Luc Bondy mit Gerard Désarthe und der grandiosen Dörte Lyssewski als Lavinia (Tsp. 10. 10. 05) bei den Wiener Festwochen. Mit der deutschen Erstaufführung am BE gelang Thomas Lang dann Anfang des Jahres ein beachtliches künstlerisches Comeback (mit einem glänzenden Jürgen Holtz als Titus, vgl. Tsp. 30. 1. 06). Hinter beiden Aufführungen bleibt Bochum nun, trotz Bruno Ganz, überraschend weit zurück.

Intendant Elmar Goerden ist es als Nachfolger von Matthias Hartmann durchaus gelungen, die Ruhr-Theatermetropole mit einigen erfolgreichen Aufführungen und exzellenten Schauspielern im Gespräch zu halten: etwa mit Straußens „Zeit und Zimmer“ in Dieter Giesings Inszenierung (mit Burghardt Klaußner, Ernst Stötzer, Paulus Manker) oder durch Armin Holz’ Wilde-Version des „Idealen Gatten“ mit Sebastian Koch. Jetzt fehlt Goerden in seiner ersten Saison nur noch der eigene Regieerfolg.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false