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SCHREIB Waren: Die Revolution der Giraffen

Steffen Richter über Kafka und den Prager Frühling

Es gab Zeiten, in denen wurde Literatur so ernst genommen, dass es einen fast gruselt. Zum Beispiel im Frühjahr 1963, als im tschechischen Liblice ein internationales Kafka-Kolloquium stattfand. Der DDR-Kulturpolitiker Alfred Kurella witterte, hier solle der ganze Sozialismus zu Grabe getragen werden. Kafkas Entfremdungsparabeln nämlich seien ein Angriff auf die gute Ordnung und überhaupt habe der Mann ja keine Ahnung, weil er Marx nicht gelesen hat.

Als die Truppen des Warschauer Pakts im August 1968 in die Tschechoslowakei einmarschierten, war vielen ostdeutschen Schriftstellern klar: Das ist das Ende der Hoffnung, mit dem Sozialismus könne es doch noch klappen. Reiner Kunze oder Thomas Brasch haben es deutlich gesagt, Uwe Johnsons Mammutprojekt „Jahrestage“ steuert sogar auf das Datum des Einmarschs hin. Und Volker Braun, der große dialektische Seiltänzer, der so poetisch und zugleich unerbittlich formuliert wie kaum ein anderer, denkt Kafka und die Chiffre „Prager Frühling“ noch immer zusammen. Der Text, den er am 7.6. (20 Uhr) im Brecht-Haus vorstellt, heißt „Strafkolonie“ (Chausseestr. 125, Mitte). Ganz wie Kafkas halluzinatorische Erzählung über einen Apparat, der Verurteilten ihr Urteil mit Nadeln auf den Leib schreibt. Bei Braun dürfte es um den Zusammenhang zwischen Utopie und Totalitarismus gehen und den Preis, den das Individuum bezahlt. Einer seiner Lieblingssätze, hat Braun einmal gesagt, lautet: „Da vorne ist nichts.“

Dass sich aus Prag und dem Frühling vor 40 Jahren noch immer literarische Funken schlagen lassen, beweist allerdings keiner so überzeugend wie Jachym Topol. Der wuchs im Prager Dissidentenmilieu auf, war einer der jüngsten Unterzeichner der Charta 77, schlug sich mit Hilfsarbeiten durch und landete wegen Wehrdienstverweigerung in einer Anstalt. Schon seine romaneske Heldentat „Nachtarbeit“ kreiste um das Jahr 1968. Das Szenario seines neuen Romans „Zirkuszone“ (Suhrkamp), den Topol am 6.6. (19 Uhr) im Tschechischen Zentrum vorstellt (Friedrichstraße 206, Mitte), sieht so aus: Den Tschechen gelingt 1968 der Widerstand gegen die anrückende Rote Armee, sie behaupten ein freies Territorium mit einem Widerstandssender. Im Zentrum aber steht der Waisenjunge Ilja, den die sowjetischen Panzertruppen „adoptieren“. Zudem hat es den DDR- Staatszirkus mit seinen Giraffen und Kamelen auf den Kriegsschauplatz verschlagen. Unter sozialistischem Realismus stellten sich Kulturfunktionäre einst etwas anderes vor. Für Bücher wie dieses hätte man Topol einfach verhaftet. Manchmal ist es von Vorteil, dass Literatur nicht mehr so ernst genommen wird.

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