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SCHREIB Waren: Vom Umgang mit dem Giftschrank

Steffen Richter über Hitler, Walser und die DDR-Zensurpraxis

Eine knifflige Frage: Soll, wie der Historiker Hans-Ulrich Wehler gerade vorgeschlagen hat, Hitlers „Mein Kampf“ in einer historisch-kritischen Ausgabe herausgegeben werden? Gegenwärtig liegen die Rechte an diesem Buch beim Land Bayern. Doch 2015, also 70 Jahre nach Hitlers Tod, werden sie gemäß den Regeln des Urheberrechts frei. Dann könnte es vorteilhaft sein, eine sachkundig kommentierte Ausgabe schlecht gemachte Editionen entgegenzusetzen. Zur Massenlektüre wird der Mist vermutlich sowieso nicht. Heute so wenig wie damals.

Prinzipiell aber darf man sich fragen, wie verbotene Bücher ins westliche 21. Jahrhundert passen. Das eine ist, was eine Gesellschaft aus unterschiedlichsten Gründen vor sich selbst verbirgt. Das andere, was ihr fürsorglich vorenthalten wird. Was normalerweise Zensur heißt, nannte man in der DDR „Druckgenehmigungsverfahren“. Über diese Praxis ist scheinbar alles gesagt: Wir wissen, wie viele lebende und tote, einheimische und ausländische Autoren dem Gutachterwesen zum Opfer fielen.

Was wir nicht so genau wissen: Auch Fachliteratur zur Rinderbesamung und geographische Karten oder Kalender, selbst die Schriften des ersten DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck wurden postum für die Gesamtausgabe zensiert. Es ist eine Art „innere Geschichte“ des vermeintlichen „Leselandes“ DDR, was die im letzten Jahr verstorbene Germanistin Simone Barck und der Verlagshistoriker Siegfried Lokatis zusammengestellt haben. Am heutigen Dienstag (20 Uhr) wird ihr Buch „Zensurspiele“ (Mitteldeutscher Verlag) im Brecht-Haus präsentiert (Chausseestr. 125, Mitte).

Vor nicht allzu langer Zeit wurde aber auch hierzulande die Nichtpublikation eines Romans gefordert. Martin Walsers „Tod eines Kritikers“, hieß es im Sommer 2002, sei antisemitisch. An die Feuilleton-Schlacht um die kulturelle Deutungshoheit erinnert man sich noch gut. Wenig später wollte der Literaturwissenschaftler Matthias N. Lorenz in seiner Dissertation „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck“ nachweisen, dass Walsers Buch genau das sei: ein moderner judenfeindlicher Roman.

Andere haben angesichts solcher Thesen die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Dass Antisemitismus auf den Index gehört, ist Konsens. Wann aber Literatur antisemitisch ist, lässt sich so leicht nicht entscheiden. Genügt die Existenz von Figuren, die entsprechende Klischees transportieren? Wo verläuft die Grenze zwischen Parodie und Denunziation? Über diese Fragen verständigt sich ebenfalls heute (20 Uhr) ein kompetent besetztes Podium in der Literaturwerkstatt (Knaackstr.97, Prenzlauer Berg). Mit Matthias N. Lorenz debattieren der Historiker Wolfgang Benz und die Literaturwissenschaftlerin Mona Körte (beide vom Zentrum für Antisemitismusforschung), moderiert von Sigrid Löffler.

Natürlich ist der Walser-Roman damals erschienen, die mediale Aufregung katapultierte ihn prompt auf Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste . Dass die Bundesrepublik dadurch antisemitischer geworden sei, darf man bezweifeln. Fest steht allerdings: Mit Giftschränken tut sich die offene Gesellschaft keinen Gefallen.

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