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SCHREIB Waren: Wie Eisschollen

Andreas Schäfer folgt weit gespannten Familiengeschichten

Welcher Autor hat gesagt, dass Familiengeschichten sich großer Beliebtheit erfreuen, weil sie so ein unerschöpfliches Konfliktpotenzial parat halten? Ein Leser von David Wagner scheint er nicht gewesen zu sein. Denn David Wagner, mit dem Roman „Meine nachtblaue Hose“ bekannt geworden, schreibt zwar Familiengeschichten, aber die Konfrontation fällt bei ihm aus. Wenn es in Wagners Familiengeschichten knallt, dann liegt dieser Knall weit zurück, im Rücken der Geschichten sozusagen – wo er allerdings so stark gewesen sein muss, dass vom familiären Zusammenhalt kaum etwas übrig geblieben ist. Wie auf Eisschollen treiben die Figuren nebeneinander her, verbunden nur durch die Milde eines erinnerungssüchtigen Erzählers. Je weniger reales Zusammenleben, desto stärker werden Familiengefühle als solche spürbar: Intimität, Geborgenheit, Trauer, verbunden mit dem etwas gespenstischen Eindruck einer untergründigen Kontinuität über Generationen hinweg.

Auch David Wagners neues, wunderbares Buch „Spricht das Kind“, aus dem er heute im Monarch (Skalitzer Straße 134, 20.30 Uhr) liest, kommt an der Oberfläche ohne Abgründe aus. In fast hundert Miniaturen beschreibt und bestaunt ein Vater seine heranwachsende Tochter, ihr Zur-Sprache-Finden, ihre Gedankensprünge, ihre Aha-Erlebnisse, ihr Nähebedürfnis und ihr Eigenständigwerden – und taucht dabei immer wieder in Erinnerungen ab. Von klassischer Familie kann freilich auch hier keine Rede sein. Offenbar leben Vater und Mutter nicht zusammen, pendelt das Kind zwischen zwei Wohnungen, was mitunter zu einer naseweisen Umkehrung der Trostrollen führt: „Ich hab’ dich vermisst, sagt das Kind, als wir uns wiedersehen, dann, bevor es wieder abfährt, ganz abgeklärt, Papa, ich komm’ doch wieder.“

Anders als etwa Peter Handkes „Kindergeschichte“ ist Wagners „Spricht das Kind“ keine Idealisierung des Kinderblicks. Wagner protokolliert meist kommentarlos die Äußerungen und das Verhalten des Kindes, bildet die Außenseite seiner magischen Welt ab. Er lässt sich rühren und anregen – aber den Zauber zapft er dem Kind nicht ab, den Zauber findet er in atmosphärisch dichten und mitunter schmerzhaften Reisen in seine eigene Kindheit wieder. So persönlich dieses Buch ist, so diskret ist es auch.

Eine nahezu klassische Familiengeschichtenkonstellation mit reichlich Reibung hat dagegen Sibylle Lewitscharoff in ihrem neuen, hochgelobten und für den Leipziger Buchpreis nominierten Roman „Apostoloff“ gewählt. Eine Tochter sitzt mit ihrer beneideten Schwester im Auto und stimmt einen furiosen Liebes- und Hassmonolog auf den durch Selbstmord von ihnen gegangenen Vater an. Zusammen mit Juli Zeh liest Sibylle Lewitscharoff am Donnerstag im Literarischen Colloquium (Am Sandwerder 5, 26.2., 20 Uhr).

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