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Kein Wort zu viel, keins zu wenig - das zeichnet den perfekten Text aus.

© picture alliance / dpa

Schreiben als Glanzleistung: Gibt es den perfekten Text? Natürlich - nur ohne Rezept

Goethe schaffte es, Barack Obama und Alicia Keys auch - die Dramen, Reden, Songs müssen uns packen und verändern.

Klaus Brinkbäumer war zuletzt Chefredakteur des „Spiegel“ und arbeitet heute als Autor unter anderem für „Die Zeit“. Sie erreichen ihn unter Klaus.Brinkbaeumer@extern.tagesspiegel.de oder auf Twitter unter @Brinkbaeumer.

Streben wir nach dem Maximalen, warum auch nach weniger. Über perfekte Sätze und perfekte Wörter werden wir in Folge zwei und drei nachdenken, doch da wir das Maximale wollen, beginnen wir unsere kleine Perfektionsserie mit dem perfekten Text. Kann es den geben? Klar. Kokette Autoren sagen, ach und oh Gott, nein, nach Perfektion könnten sie stets nur streben, doch zu erreichen sei diese nie. Was Quatsch ist.

Cicero wusste genau, wie man die perfekte Rede hält

„Faust“ ist perfekt: die Geschichte, die Wortschöpfungen („Gretchenfrage“), die Weisheit, der Rhythmus („Dass ich erkenne, was die Welt / Im Innersten zusammenhält). „Richard II.“ ist perfekt und wäre es nicht ohne Richards Leiden am eigenen Sturz. Politische Reden gelingen laut Cicero dann, wenn sie von der Einleitung („exordium“) zur Erläuterung des Sachverhalts („narratio“), weiter zu Argumentation („divisio“) und Beweisführung („confirmatio“), schließlich zur Widerlegung der gegnerischen Argumente („confutatio“) und zum Finale („conclusio“) führen; Barack Obamas Rede auf dem Parteitag der amerikanischen Demokraten war perfekt, da sie die eigene kühle Intellektualität durch lodernde Dringlichkeit konterte. Drei Hymnen auf New York City („Here is New York“ von E.B. White , „The way we live now“ von Colson Whitehead und der Song „The Empire State of Mind“ von Alicia Keys und Jay-Z) sind perfekt: Wir lesen oder hören und fühlen eben dadurch, erreichen einen höheren Ort, einen veränderten Zustand.

Und es gibt die Perfektion des episch Maßlosen

Julia Phillips schafft dies auch und entführt in „Disappearing Earth“ zunächst zwei Schwestern und anschließend uns: auf die russische Halbinsel Kamtschatka, in eine ungekannte Welt. Und noch einmal Colson Whitehead: In den „Nickel Boys“ spüren, trauern, hoffen, fiebern wir vom ersten Satz an, und doch ist nach dem letzten Satz alles anders, was das zuvor Erfahrene nicht unterhöhlt, sondern erhebt.

Es gibt die Perfektion des episch Maßlosen: Elena Ferrantes romantische Gnadenlosigkeit in den vier neapolitanischen Romanen. Tolstoi wiederum ist episch und fraglos maßlos, doch nicht perfekt: „Anna Karenina“ hätte ich gern redigiert, dann wär‘s um 200 Seiten kürzer.

Tagesspiegel-Kolumnist Klaus Brinkbäumer.
Tagesspiegel-Kolumnist Klaus Brinkbäumer.

© Tobias Everke

Perfekte journalistische Texte erzählen uns das, was soeben noch unrecherchiert war, durchdenken es. Sie sind gekonnt geschrieben, überraschen uns auf halber Strecke (und gern öfter) und klettern auf eine neue Ebene. Als ich 2009 Malcolm Gladwells Text über den Football-Spieler Michael Vick las, war es, handwerklich, eine Erleuchtung: Vick wurde dafür bestraft, dass er einen illegalen Kampfhunde-Ring betrieben hatte – tut eine Liga, die von den Hirnverletzungen ihrer eigenen Spieler lebt, aber etwas anderes als „dogfighting“?

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Und finden wir nun Perfektionsregeln? Eine nur: keine Raster bitte, keine Starre.
Beim „Spiegel“ habe ich 1993 gelernt, wie eine Einseitengeschichte zu schreiben war, 125 Zeilen: Dem glamourösen ersten Satz folgten 20 Zeilen szenischer Ein­stieg, dann 10 Zeilen These, auch dritter Absatz oder Auf­blase genannt. Zeile 35 bis 50: Ausarbeitung des Konflikts, süffige Details. Zeile 50 bis 60: zweite These, das ist die Weiterentwicklung der ursprünglichen These. Zeile 60 bis 75: Rolle rückwärts – die Genese des Kon­flikts. Zeile 75 bis Zeile 120: Auffächerung der Geschichte in ihren Details, Antithese, Synthese, Ende. Zeile 120 bis 125: szenischer Ausstieg, flapsige Pointe.

Der perfekte Text muss klingen und schwingen

Nein, so bitte nicht. Perfekte Texte können nicht Kopie, sondern müssen etwas bislang nicht Geschriebenes sein. Der perfekte Text fängt uns mit seinem Einstieg ein und lässt uns bis zum letzten Punkt nicht los. Er klingt, er schwingt, er weiß, was er will, ist klirrend klar oder boshaft lustig und beides zugleich. Es braucht bloß Mut und kein Wort zu wenig, keines zu viel.

Klaus Brinkbäumer

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