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Kultur: Schreiben oder bleiben

Ein wildes deutsches Leben: die Wiederentdeckung der Berliner Publizistin Margret Boveri

An ihrem Grab wollte sie keine Rede, nur Musik, am liebsten Schubert. Pfarrer Heinrich Albertz, vormals Westberliner Innensenator, hätte seinem Gemeindemitglied, der Journalistin Margret Boveri, gerne Abschiedsworte gesprochen. Das hatte sie sich verbeten. Wenige Worte des Geleits, zwei Psalmtexte, und damit genug.

Wer sich heute, dreißig Jahre später, ein Bild von dieser kleinen, resoluten und welterfahrenen Frau verschaffen will, geht auf Entdeckungsreise. Fotos von Margret Boveri, die am 14. August 1900 im unterfränkischen Würzburg geboren wurde, zeigen eine selbstbewusste Person: auf einem Kamel vor ägyptischen Pyramiden posierend, am Schreibtisch residierend oder werkelnd im Steingarten ihres Hauses. Den Bildern ist kaum anzusehen, dass diese Frau für die politischen und kulturellen Wandlungen ihrer Zeit ein Sensorium besaß wie wenige. Ihr Vater Theodor Boveri, den sie liebte, und ihre Mutter, eine US-Amerikanerin, die sie nicht liebte, waren bedeutende Zoologen. Nach kurzem Probelauf in dieselbe Richtung riss Boveri das berufliche Ruder herum, studierte Germanistik, Anglistik und Geschichte und promovierte an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität über Sir Edward Grey, den britischen Außenminister im Ersten Weltkrieg. Sie legte ein gewaltiges außenpolitisches Archiv an, bereiste die Kontinente, und füllte die Spalten renommierter Zeitungen und Zeitschriften.

Was auf den ersten Blick wie die Musterkarriere einer jungen Frau aussieht, bedarf auf den zweiten der Rechtfertigung. Denn Boveris Aufstieg vollzog sich im nationalsozialistischen Triumphjahr 1933, während der Gleichschaltung der Presse und der hemmungslosen Lösung der „jüdischen Frage“. Boveri blieb in Deutschland – bis zu ihrem Tod wurde sie deshalb angefeindet. „Sie haben durch Verbleiben in Deutschland und durch Berichte für Deutschland“, wird ihr Uwe Johnson Anfang der Siebzigerjahre unwidersprochen vorhalten, „sich sowohl für Rassenschande-Urteile wie die Intervention in Spanien erklär,t in Form einer Stellungnahme.“ Die anfängliche Philosemitin, die mit Martin Buber korrespondierte und einen Artikel mit dem Titel „Selbstgespräch über die Juden“ verfasste, fühlte sich irgendwann sogar „reif für die Partei“, der sie aber nie beitrat. Selbst eine kurze Verhaftung 1935 mit einer Einvernahme im Gestapo-Hauptquartier irritierte sie nicht.

Mit dem „Berliner Tageblatt“ unter dem von ihr verehrten Paul Scheffer fand Boveri 1934 einen Ort, der ihr die gewünschte Arbeitsmöglichkeit bot. Wer die materialreiche Biografie von Heike B. Görtemaker liest, der bekommt eine Ahnung, was eine derart nüchterne, aufgeklärte, von liberalen Verhältnissen geprägte Persönlichkeit am Berliner Pressebetrieb jener Jahre faszinierte: Man sah das Räderwerk der Macht rotieren, erkannte dessen Wirkung und nährte doch die Illusion, es gebe Nischen für geistige Schmuggelware zwischen den Zeilen. Wie viel Welt Boveri auch sah zwischen Griechenland, Italien, dem Orient und aus dem Waggonfenster der Transsibirischen Eisenbahn, sie blieb an den Fäden nationalsozialistischer Machtausübung hängen. Wer will, kann ihr daraus einen Strick drehen.

Für die „Frankfurter Zeitung“ war sie seit 1938 tätig. Im Herbst 1940 ging sie als Korrespondentin nach New York, wo sie zu Beginn des Zweiten Weltkriegs interniert wurde: Wenn jemand aus amerikanischer Sicht Misstrauen verdiente, dann Boveri. 1942 kehrte sie per Schiff nach Europa zurück, war in Portugal und Spanien tätig, um im März 1944 wieder nach Berlin zu ziehen. Dort fand sie in dem hohen Beamten Adam von Trott zu Solz einen Gesprächspartner über ein Deutschland nach Hitler. Dass er im deutschen Widerstand war, ahnte sie wohl, erfahren hat sie es wahrscheinlich erst später.

In der Reichshauptstadt tobte die letzte Pressesäuberung der Nazis – und wieder versuchte Boveri, von allen Übeln das Geringste zu wählen. Sie schrieb für „Das Reich“ (über Amerika!), ein Blatt, mit dem Goebbels noch einmal die in Deutschland gebliebenen Intellektuellen binden wollte. Ihre Rundbriefe über Berlin 1945 wird Boveri 1968 veröffentlichen – zögernd, weil sie mit den Berichten über die russischen Vergewaltigungen nicht den Entspannungsprozess gefährden will: „Tage des Überlebens“ beschert ihr etliche Preise.

Nach dem Kriegsende, das sie als Niederlage begriff, begann die zweite Karriere Margret Boveris. Ihre Amerika-Fibel für erwachsene Deutsche, 1946 veröffentlicht und von den US-amerikanischen Behörden verboten, entwarf ein nüchternes Bild von der Besatzungsmacht. Der Text polarisierte. Sein spiritus rector: Ernst Jünger. Die Fibel, schrieb Boveri an den zeitweilig maßlos Bewunderten, wäre „nicht in dieser Form geschrieben worden, wenn Ihre Bücher mir nicht ein neues Sehen beigebracht hätten.“ Wie Jünger wollte sie sich keiner neuen Macht andienen und sah in der rückhaltlosen Westbindung, für die Konrad Adenauer stand, ein Verhängnis. Mit gleicher Entschiedenheit verurteilte sie die politische Entwicklung im Osten. Als sich ihre kritische Haltung gegenüber Adenauer und Bonn herumsprach, lockte Pankow mit Einladungen – verlockend war ihr das nie. Sie träumte vielmehr von einer deutschen Wiedervereinigung unter neutraler Flagge. Als sie 1951 einen Artikel an die „FAZ“ schickte, in dem sie für die Deutschen diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs eine politikfreie Zone forderte, ein Niemandsland der Gemeinsamkeit, war man dort schlicht entsetzt.

Die Gesellschaft, in die sie durch diese Haltung geriet, war Boveri nie ganz geheuer. Mit Recht spricht ihr Biograf Görtemaker daher vom Rückzug ins Feuilleton. Boveri ging an ihre große Arbeit über den Verrat im 20. Jahrhundert, die zwischen 1956 und 1960 in vier Teilen herauskam. Dem Verdienst dieses Kompendiums, über weite Strecken glänzend geschrieben, stehen gewichtige Einwände gegenüber: Man warf ihr vor, sie habe einen Mann wie den hingerichteten Helmuth Graf von Moltke zum „Verräter“ gestempelt, aber den größten ausgelassen – Hitler. Die Kritik des jungen Jürgen Habermas, Boveri binde die Repräsentanten der „militanten Gegenaufklärung“ (die Widerständler des 20. Juli eingeschlossen) an die konservative Revolution und ignoriere die Gewissenshaltung, traf den neuralgischen Punkt des Buchs.

Unterdessen hatte Boveri sich ihren Platz in der bundesrepublikanischen Presselandschaft erobert. Man wollte sie erneut ins Ausland schicken. Sie jedoch unternahm 1965 mit ihrem provokanten Buch „Wir lügen alle. Eine Hauptstadtzeitung unter Hitler“ den heiklen Versuch, die journalistische Ära vor 1945 vom Vorwurf nationalsozialistischer Gleichschaltung zu befreien. Auf Boveris letztes Lebensjahrzehnt fällt wiederum helles Licht. Mit der Gestalt John F. Kennedys wandelte sich ihr Amerika-Bild, Brandts Ostpolitik war ihr Bestätigung, und in der Begegnung mit Uwe Johnson entdeckte sie sich selbst noch einmal neu. Die Fotografien jener Zeit zeigen eine schön gewordene alte Frau. Dem Schriftsteller vertraute sie ihre Lebensaufzeichnungen an, dem Ehepaar Johnson stand sie auch bei kritischen Fragen Rede und Antwort.

Johnsons Wort „Frau Boveri wusste zuviel“ ist weise. Wie ein Leitspruch steht es über einem Leben, für das der einfache Nenner fehlt, auf den es zu bringen wäre.

Neu erschienen sind: Margret Boveri: Tage des Überlebens. Berlin 1945. wjs Verlag, Berlin. 328 S., 22 €.

Margret Boveri: Wüsten, Minarette und Moscheen. Im Auto durch den alten Orient. wjs Verlag, Berlin. 208 S., 19,90 €.

Heike B. Görtemaker: Ein deutsches Leben. Die Geschichte der Margret Boveri. 1900–1975. C. H. Beck, München. 416 S., 26,90 €.

David Dambitsch: Eine Dame von Welt. Die politische Journalistin Margret Boveri (1900–1975). Air Play-Audio. (Hörbuch)

Roland Berbig

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