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Der Weiße Turm an der Promenade ist das Wahrzeichen Thessalonikis.

© dpa

Schriftstellertreffen in Thessaloniki: Der Überdruss der Krisenmenschen

Thessaloniki ist die vierte Station des griechisch-deutschen Schriftstellertreffens. Die Griechenland-Krise wird hier nicht diskutiert, sondern eine dramatischere Herausforderung: Die vom Tode bedrohten Flüchtlingsströme.

Überall sucht man sie, die Krise. Aber das Biest ist nicht nur zäh, es weiß sich auch zu tarnen. Im Zentrum von Thessaloniki, der zweitgrößten Stadt Griechenlands: volle Cafés, der übliche dichte Verkehr, einiger Andrang in der berühmten Markthalle. Es liegt in der heimtückischen Natur der Krisenpsychologie: Wer ins Land der Griechen kommt, erwartet sichtbare Zeichen von Verfall und Niedergang, stigmatisierte Bürger. Die Klischeevorstellungen sitzen tief und wirken wie schleichendes Gift, selbst wenn man sich für einigermaßen gut und fair informiert hält.

Ein Freund sagt: Ich sehe es in den Augen der Menschen. Die Müdigkeit. Die Jahre des ewigen Auf und Ab. Das Warten auf eine Lösung, irgendeine Lösung. Er ist Direktor eines Museums in der Stadt am Hafen. Ein anderer Freund leitet einen renommierten Buchverlag. Sie entwerfen gute und große Pläne, ringen um die Qualität von Programmen, Publikationen. Wer jetzt aufgibt und populistischen Schrott produziert, sagen sie, steht nachher mit leeren Händen da – wenn die Krise einmal vorüber ist.

Yannis Boutaris, der Vertrauensmann aus Thessaloniki

Griechisch-deutsches Schriftstellertreffen Anfang Juni 2015 in Thessaloniki. Nach Triest, Tirana und Alexandria ist die Stadt mit dem Weißen Turm die vierte Station der Reihe „Das weiße Meer“. So wird das Mittelmeer im Türkischen und Arabischen genannt. Yannis Boutaris, der Bürgermeister von Thessaloniki, gehört zu den Politikern, die Vertrauen genießen in Griechenland. Boutaris kommt aus einer Weinhändlerfamilie und gilt als geheilter Alkoholiker. Über seine persönlichen Krisen spricht der 72-Jährige offen, dafür wird er respektiert. Boutaris hat nichts gemein mit der verfilzten politischen Klasse, seine unkonventionellen Methoden helfen Thessaloniki. Er will die multiethnische Geschichte der Stadt wiederbeleben, die ein Kreuzpunkt vieler Kulturen war seit der Zeit der Römer. Er erinnert an die jüdische Tradition. Im Zweiten Weltkrieg deportierten und ermordeten die Deutschen 60000 Juden aus Thessaloniki.

Menschen wie Yannis Boutaris haben Feinde. Die neofaschistische Partei „Goldene Morgenröte“ beschimpft ihn als „nationalnihilistischen Bürgermeister“. Der mit fremdenfeindlichen Verschwörungstheorien gespickte Hassartikel in der Zeitung „Vorwärts“ feuert auf die Bundesrepublik. Da wird der Allianz Kulturstiftung vorgeworfen, die das „Weiße Meer“ zusammen mit dem Literarischen Colloquium Berlin organisiert, sie mische sich in den Bürgerkrieg in der Ukraine ein und ziele auf die „Zerstückelung Russlands“. Die Konferenz der Autoren im Rathaus („während das griechische Volk hungert“) sei eine Aktion der „internationalistischen Linken“, zu der auch Angela Merkel gehöre. Der irre Text gibt eine Vorstellung davon, wie brutal das innenpolitische Klima in Griechenland sein kann.

Die Dichtung der Krise

Schriftsteller aus Deutschland wie Sherko Fatah, Nikol Lubic und Aris Fioretos äußern sich hier zurückhaltend über die griechischen Verhältnisse. Bei ihren griechischen Kollegen wiederum erstaunt die Ruhe, mit der sie durch diese Tage gehen. Ist es Erschöpfung? Oder Überdruss, immer nur als Krisenmensch und Opfer betrachtet zu werden? Der Dichter Vassilis Amanatidis wehrt sich grundsätzlich gegen verordnete Rollen: „Es wird immer mit dem Finger auf Schriftsteller gezeigt, wir werden gefragt, was könnt ihr in der Krise tun? Was sind eure Antworten?“ Amanatidis will kein politischer Dichter sein, nicht so. Seine Prosatexte pulsieren von finsterer Gewalt.

Die Arbeitslosigkeit liegt bei 26 Prozent. In den letzten fünf Jahren haben 120 000 junge, meist akademisch gebildete Menschen das Land verlassen, nach konservativer Schätzung. Was wäre in Deutschland los, in vergleichbarer Lage, wenn Armut sich ausbreitet, die sozialen Sicherungssysteme implodieren, die Krankenversorgung ausfällt und finanzielle Hilfe an stets neue, härtere Einschnitte gebunden ist, bei einem ohnehin schon geringen Durchschnittsverdienst?

Die Kollision von Emigration und Immigration

Thanassis Valtinos ist 83 Jahre alt. Er zählt zum literarischen Establishment. Er schrieb Romane, Erzählungen und Drehbücher für die Filme von Theos Angelopoulos, die ja gern in Thessaloniki spielen. Valtinos hat auf dem Treffen eine lange Rede gehalten. Er erzählt die Geschichte Griechenlands als Folge von Emigration, Hungersnot, Bürgerkrieg und wieder Auswanderung. Das Weggehen ist ein ewiges Motiv – und sei es, dass in der Antike Griechen rings ums Mittelmeer siedelten. Aber das war eine Geschichte von Machtausbreitung und Erfolg, von kultureller Blüte. Damals hat sich eine Zivilisation entfaltet, auf die sich der Westen bis heute beruft.

Das Drama der Emigration – und die Einwanderung. Thalassis Valtinos beschreibt die Flüchtlinge aus Afrika, die verloren durch die Straßen Athens irren und im Müll wühlen. Sie kommen übers Meer, sie kommen in ein Griechenland, in ein Italien und Spanien, das um wirtschaftliche Standards kämpft, von Schulden bedrückt. Die Schriftsteller in Thessaloniki sind sich einig: Die Einwanderung, die vom Tod bedrohten Flüchtlinge, die Abschottung der EU, das ist das eigentliche Thema, nicht die Griechenland-Krise. Das wird nicht mehr weggehen, das Massensterben vor den Küsten. Die noch viel größere und dramatischere Herausforderung für Brüssel, Berlin, Athen liegt in den Ländern des südlichen und östlichen Mittelmeers, in den gescheiterten Staaten der mediterranen Region, wo sich die Lage täglich verschärft. Seit Januar wurden über 100 000 Bootsflüchtlinge gezählt.

Menschen, keine Zahlen

Najet Adouani stammt aus Tunesien. Sie hat sich für die Rechte der Frauen eingesetzt, für Meinungsfreiheit. Arabischer Frühling? Im Oktober 2012 flieht sie nach Deutschland. Sie lebt in Berlin. In Thessaloniki sitzt sie auf dem Podium und bleibt lange still. Dann wird sie wütend: Es sind Menschen, die da kommen, sagt sie, keine Nummern, Menschen mit „schönen Seelen“. Sie ist die Einzige, die sich für ihre Lesung vom Tisch erhebt und ans Pult geht. Sie trägt ein Gedicht auf Arabisch vor: Soll ich dich vergessen / oder das Leid? /Mein Weg führt in die Nacht,/ wälzt /den Rest Kummer / ins Künftige ... Man nimmt den Kopfhörer mit der Simultanübersetzung ab, um ihre Stimme zu hören. Sie ist intensiv, klagend, melodisch, sie kommt aus der Tiefe der kalten, salzigen See.

Texte vom Treffen in Thessaloniki lesen Sie hier.

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