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Kultur: Schuhe, die die Welt bedeuten

Von Militärstiefeln und Nike-Sneakers: im Sauseschritt durch Koreas Geschichte

Mein Vater gehört zu der Generation, die noch während der japanischen Besatzungszeit geboren wurde. Er ging während des Koreakriegs zur Schule, wurde später selbst als Soldat in den Vietnamkrieg geschickt und erlebte schließlich die Olympischen Spiele in Seoul. Man könnte sagen, er und seine Generation haben jede Art von Schuhen getragen. Zuerst, in den schwersten Jahren, mussten sie barfuß laufen. Dann konnten sie sich koreanische Gummischuhe leisten. Es folgten Militärstiefel, später Sportschuhe und Schuhe aus gutem Leder. Die Generation meines Vaters hat sich sozusagen „die Geschichte an den Sohlen abgelaufen“. Dagegen trug meine Generation von Kind an Schuhe der Marke Nike und besaß Paare für jeden Zweck. Doch in einigen Ländern der Welt laufen die Menschen weiterhin barfuß, und wieder andere tragen, als wäre nichts geschehen, immer noch bestes Schuhwerk.

Die Militärstiefel hat mein Vater die längste Zeit anziehen müssen. Er stammt aus einer armen Familie, die auf dem Dorf wohnte. Es fehlte Geld, um den Sohn auf die Schule zu schicken. So ging er in die Stadt und bewarb sich beim Militär. Er bestand die Prüfung für die Offizierslaufbahn und versuchte, in der Armee Karriere zu machen. Letztlich habe ich es meinem Vater zu verdanken, dass ich an der Grenze zu Nordkorea, wo er stationiert war, geboren wurde. In einem kleinen, schäbigen Zimmer, das man mit Holz beheizte, wurde ich geboren. Ein junger Militärarzt half bei meiner Geburt. Er war kein Gynäkologe und schwitzte gehörig, obwohl es mitten im Winter war. Mein Vater war damals Hauptmann. Doch wenn er meine Mutter und mich besuchen wollte, musste er fünf Stunden zu Fuß laufen.

Als ich zehn Jahre alt war, übersiedelten wir in die Waffenstillstandszone südlich von Panmunjom. Wir durften in ein Haus ziehen, das der Armee gehörte und nur von Angehörigen der Truppe bewohnt wurde. Um zur Schule zu kommen, mussten mein Bruder und ich erst im Militärwagen bis zur „Brücke der Befreiung“ fahren. Dort stiegen wir in den Bus um. An der Brücke wachten amerikanische und koreanische Soldaten, die sich gern einen Spaß auf unsere Kosten machten. So baten sie uns nachzuschauen, ob sich ein Kaugummi am Hinterteil ihrer Uniform festgeklebt habe. Als wir unsere Köpfe dem Gesäß der Soldaten näherten, pupsten sie lautstark.

Da diese Gegend für Zivilpersonen gesperrt war, hatte ich keinen Freund und konnte nirgendwohin gehen. Das Gelände, wo die Truppe meines Vaters stationiert war, sah ich als meinen Spielplatz an. Die zwanzigjährigen Soldaten, die meinem Vater unterstellt waren, und sogar den Wachhund nannte ich Freunde. Außerhalb der Truppenbasis begannen gleich die Minenfelder. Üppiges Grün und wild wachsende Blumen bedeckten den Boden. Die Stacheldrahtzäune mit den Schildern „Achtung Minengefahr“ wirkten unwirklich. Aber in den Nächten hörte ich in der Ferne die Minen explodieren. Rehe beim Wildwechsel hatten die Detonationen ausgelöst und verendeten elend.

Im Jahre 1979 besuchte der amerikanische Präsident Jimmy Carter Korea. Der offizielle Besuch galt unserer damaligen Regierung, die von den Amerikanern als Diktatur angesehen wurde. Carter wollte auch die Grenze zu Nordkorea besichtigen, so wie es alle anderen amerikanischen Präsidenten während des Kalten Krieges getan hatten. In diesem Zusammenhang plante Jimmy Carter auch eine Stippvisite bei der Truppe meines Vaters. Für das kleine, nur rund 600 Mann starke Bataillon meines Vaters war der Besuch ein großes Ereignis. Der damalige Diktator Park Chung-Hee wollte Carter auf diese Weise einen Eindruck von der ernsten Lage an der Grenze und den Bedrohungsmechanismen Nordkoreas vermitteln. Er hoffte, ihn zu überzeugen, dass der Kalte Krieg hier andauerte und Amerika ihn nicht im Stich lassen konnte. Mein Vater, der für Höhe 191 (die Bezeichnung leitet sich von der Lage, nämlich 191 Meter über dem Meeresspiegel ab) verantwortlich war, bereitete alles akribisch vor.

Einer aus der Truppe stellte eines Tages unvermittelt die Frage, was zu tun sei, wenn Jimmy Carter ein menschliches Bedürfnis überkomme. Die Soldaten, die die Höhe bewachten, verfügten nur über eine provisorische Toilette. Mein Vater leitete die Anfrage an seine Vorgesetzten weiter. Diese hörten sichtlich betroffen zu und gaben dann den dringenden Befehl, dass auf Höhe 191 sofort eine Toilette nach westlichem Muster zu errichten sei. Schließlich war es undenkbar, dass ein Präsident der USA eine traditionelle koreanische Toilette zu benutzen hatte. Die Zeit drängte. Zudem waren westliche Toiletten damals in Korea nicht üblich, und die Bausoldaten hatten keine Erfahrung, wie man Kanalisationsrohre verlegt und eine Klärgrube auf Höhe 191 aus dem Boden stampft. Da hatte mein Vater eine Idee: Man baut ein Toilettenbecken nach westlichem Muster auf. Über der Toilette brachte man unauffällig einen kleinen Wasserbehälter an. Sollte Jimmy Carter Wasser lassen, würde Wasser aus diesem Behälter in die Grube fließen. War das nicht eine fast echte westliche Toilette!

Am Tag, als der Hubschrauber mit Carter am Himmel auftauchte, blickten alle gebannt nach oben. Einige kniffen die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Doch der Hubschrauber drehte nur einige Runden über der Höhe 191 und kehrte dann nach Seoul zurück. Es hieß, die Sicherheitskräfte hätten wegen des Nebels die Landung für zu gefährlich gehalten. Die Generäle verließen den Ort, und auch mein Vater kehrte wieder zu seiner Truppe zurück. Auf der Höhe stand die fast westliche Toilette und glänzte vor sich hin. Das Weiße Haus schickte später eine Dankeskarte mit dem gedruckten Wappen des Präsidenten an meinen Vater. Einige Monate nach diesem Ereignis wurde Präsident Park von seinem eigenen Geheimdienstchef beim Zechen erschossen.

So war es in Korea zur Zeit meines Vaters. Korea war ein armes proamerikanisches Land, das von einem Diktator regiert wurde. Die Umstände erinnern an das Beispiel der verfälschten westlichen Toilette. Man wollte um jeden Preis dem Westen ähnlich sein, auch wenn man dazu nicht wirklich in der Lage war.

Mehr als 25 Jahre sind seitdem vergangen. Die koreanische Gesellschaft hat sich verändert. Junge Koreaner haben heute mehr Gemeinsamkeiten mit jungen Leuten aus anderen Ländern als mit der älteren Generation in ihrer Heimat. Sie hören auf ihrem iPod Musik von Eminem, trinken Kaffee bei Starbucks und essen mittags Pizza. Die Gesprächsthemen holt man sich von den Webseiten, viele nutzen Blogs. Diese virtuellen Räume bestimmen ihr tägliches Leben, das sie mit einer Digitalkamera aufgenommen haben. Viele sparen ihr Taschengeld, um eine Reise ins Ausland zu machen. Einige fühlen sich im thailändischen Koh-Chang oder in Varanasi in Indien bereits wie zu Hause. Sie tragen T-Shirts von Adidas und Jeans von Lewis, trinken Gatorade und schauen Fußballspiele der Oberliga. Viele Fußballfans werden nächstes Jahr nach Deutschland fliegen, um die Weltmeisterschaften zu erleben. Sie fühlen sich im heutigen Japan oder Amerika wohler als in Korea. Sie fühlen sich andererseits in Europa oder Amerika unsicher, da das Internet dort nicht so reibungslos funktioniert.

Zieht man in Korea um, bekommt man noch am selben Tag einen Telefonanschluss und spätestens am nächsten Tag einen Internetanschluss. Alles geschieht atemlos und schnell. Die Jungen sind stets durch Messenger, Blog und Handy verbunden. Überall kann man problemlos und mit Leichtigkeit für 1000 Won (rund 80 Cent) eine Stunde den Computer benutzen und sich natürlich alle möglichen Waren ins Haus liefern lassen. Elektronische Tickets können gleich mit der Tasche an automatische Schranken gehalten werden – und schon kann man mit Bus und U-Bahn fahren. Das Handy im Auto erklärt dem Fahrer den kürzesten Weg. Wenn junge Männer und Frauen Sex haben wollen, fahren sie in ein Motel, wo alles automatisch geregelt wird. Sie bezahlen mit Kreditkarte, ohne einem Menschen zu begegnen. Sie gehen dann ins Restaurant, das 24 Stunden geöffnet ist, essen spät zu Abend, trinken Kaffee im „Seven-Eleven“. Dann fahren sie nach Hause und surfen im Internet. Sie lesen Romane von Haruki Murakami und Patrick Süskind, schauen Hollywood-Filme und teilen ihre Eindrücke sofort im Netz mit. Seoul erinnert manchmal an eine Stadt aus einer Science-Fiction-Serie.

Vor einigen Tagen nahm ich an einer Trauerfeier in einem Krematorium teil. Als der Sarg dem Feuer überlassen wurde, schluchzte die versammelte Familie. Ein Sohn der Familie, ungefähr 40 Jahre alt, hielt sich im Hintergrund. Er bediente eine Digitalkamera, die aufnahm, wie der Sarg ins Feuer glitt. Kein Familienmitglied empörte sich. Man hat sich daran gewöhnt, dass junge Leute zur Digitalkamera greifen, wenn sie schockierende Dinge erleben oder neugierig sind. Es erschien mir nur ungewöhnlich, dass ein Mann von vierzig so etwas tat.

Das empfinde ich als symptomatisch für das Korea von heute. Die Sechzigjährigen gehen ins Grab, die Vierzigjährigen fotografieren und filmen diesen Abgang, während die Teenager, an allem desinteressiert, vor dem Krematorium hin und her laufen. So eigenartig ist das Land, in dem ich lebe.

Aus dem Koreanischen von Lie Kwang-Sook und Sylvia Bräsel

Kim Young-ha

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