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Die österreichische Schriftstellerin Valerie Fritsch, hier 2015 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt

© Gert Eggenberger/dpa

Schuld und Sprachlosigkeit: Valerie Fritschs Roman "Herzklappen von Johnson & Johnson"

Böses Gespensterdrama: Valerie Fritschs großartig durchkomponierter Familienroman „Herzklappen von Johnson & Johnson“

Der Großvater war Soldat und Mörder. Aber von seinen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg erfährt Alma erst, als sie ein Kind zur Welt gebracht hat und endlich Antworten auf ihre Fragen verlangt, die sie seit Jugendtagen quälen. „Es war, als hätten alle Menschen in Almas Leben etwas zu verbergen, die Eltern und die Großeltern, deren Verhältnis untereinander und zur Welt so gespannt war, dass man es gerade noch ertrug

Doch es ist nicht der schweigende und „sprachlose“ Opa, der eine Vergangenheit offenbart, der spät über die traumatisierenden Erlebnisse an der Front und dann in der Lagerhaft redet.

Alma kommt mit der kranken Großmutter ins Gespräch, die dem familiären Vergessen ein Ende bereiten möchte, um nicht die Geheimnisse des Gatten mit ins Grab nehmen zu müssen. So abgestumpft der Großvater zeitlebens wirkte, so „empfänglich für jeden Schmerz“ schien die Großmutter, die in „betrunkenen Geständnissen“ von den Taten ihres Mannes erfuhr und am Ende ihres Lebens ausbrechen möchte aus einer „selbstverhängten Haft“.

Die Ausgangskonstellation in Valerie Fritschs drittem Roman „Herzklappen von Johnson & Johnson“ ist nahezu genretypisch für den österreichischen Familienroman der vergangenen Jahrzehnte.

Die 1989 in Graz geborene Autorin entwickelt aber aus dem Stoff, der von Schuld und mangelnder Sühne handelt, einen Roman, der sich sowohl inhaltlich als auch sprachlich deutlich abhebt von anderen literarischen Reisen in die verbrecherische Vergangenheit der Väter und Großväter.

Dieser Roman ist sprach- und bildmächtig

Denn für Alma sind die Berichte der alten Frau, zu der sie eine „späte Liebe“ entwickelt, vor allem deshalb so bedrückend, weil sie befürchtet, die Erfahrungen der Eltern, die sozialen Muster der Großeltern könnten sich auch auf die nächste und übernächste Generation übertragen.

Emil, so heißt Almas Sohn, ist nämlich vollkommen schmerzunempfindlich. Auch wenn es für diese Unfähigkeit eine medizinische Erklärung gibt, fürchtet sich Alma weniger vor den Folgen der seltenen Genmutation als vielmehr vor einer mythisch-seelischen Verbindungslinie vom großväterlichen Gefühlskrüppel zu ihrem Kind, das ein Schmerzempfinden erst als theatralischen Akt erlernen muss.

Dem Großvater wurden Herzklappen von einer Firma namens Johnson & Johnson eingesetzt, und auch Emil überlebt nur mit viel Medizintechnik im Körper. Die Verwandtschaft will sogar „in Emils Gesicht jenes des Großvaters“ wiedererkennen. Alma ist geschockt, dass „Emil dem Alten auf irgendeine Weise gleich sein sollte“.

Aber weil Alma ihre Herkunft vollends verneint, sind die Dämonen der eigenen Sippe wirkmächtiger denn je. Wenn über diesen Roman gesagt wird, er sei sprach- und bildmächtig, ist das keineswegs eine Feuilletonphrase. Valerie Fritsch ist Schriftstellerin und Fotografin und weiß diese Doppelbegabung zu nutzen. Mit nahezu digitalpräzisen Sätzen scheint sie die bestürzenden und oft surrealen Szenen sprachlich abzufotografieren.

Was zwangsläufig dazu führt, dass manche Figurenbeschreibungen zu verbalen Hinrichtungen werden, etwa wenn es über die kontrollsüchtige Mutter heißt, dass sie „jeden Dienstag die Regale abstaubte, bevor die Putzfrau jeden Mittwoch kam.“

Die Motive sind so gut durchgearbeitet in dieser Prosa

Die distanzierte Erzählperspektive, die sich keineswegs allwissend gibt, verstärkt diesen Effekt und lässt eine Literatur mit vielen markanten Formulierungen entstehen.

Die Motive sind so gut durchgearbeitet in dieser Prosa, dass man ständig geneigt ist, Sätze zu unterstreichen, um sie später zitieren oder in sozialen Medien teilen zu können - wie das in unserer visuell gesteuerten Welt zumeist mit Fotos geschieht. Fritsch beherrscht den sprachlichen Radikalzoom.

Die lyrische Nahaufnahme geht schnell über in ein farbenprächtiges Panoramabild, und weil die Autorin mit immer neuen Einstellungen überrascht, entsteht eine verstörende Unruhe, die gut zu den Figuren passt, die auch keinen Frieden finden. So fotografisch die Sprache, so visuell auch die anderen Vergleichsmittel im Roman. Immer wieder verweist Fritsch auf die Inszenierung des Geschehens, auf das Bühnenhafte der Geschichte: „Alma wurde die Idee nicht los, dass man für sie Theater spielte.“ Und zwar schlechtes. Almas Eltern gaben selten das liebende Ehepaar, übernahmen auch nur widerwillig ihre Rollen von Vater und Mutter. Wenn bei der Geburtstagsfeier des Großvaters die greisen Gäste, als schweigende Täter vereint, auf weißen Plastiksesseln saßen, „enthoben, unerreichbar“, dann bezeichnet die Erzählstimme diese Zukunft als „Weltraumkammerspiel“. So entwickelt sich der Familienroman schon bald zum bösen Gespensterdrama, was nicht nur an Almas Mutter liegt, die tagsüber die biedere Ordnung sucht, als Schlafwandlerin auf dem Friedhof aber nächtliche Besucher erschreckt. Ob die Menschen als Untote durchs eigene Leben geistern oder als Verstorbene die Träume der Nachgeborenen stören, wenig scheint wirklich und wahrhaftig zu sein in Almas Welt, bis sie endlich Friedrich kennenlernt.

Es geht um ein generationsübergreifendes Kriesgtrauma

Mit den Beschreibungen dieser innigen Liebe wird Fritschs Prosa weicher und mitfühlender. Manchmal zieht sogar Humor in den Roman ein. Alma stellt zum Beispiel lustige Listen zusammen, auf denen sie festhält, was sie vermisst, wenn Friedrich nicht bei ihr ist. Denn der Geliebte wohnt nicht am selben Ort, ist als Fotograf ohnehin ständig unterwegs.

Dass sie zusammen gehören, erfahren beide einerseits in der mühevollen Sorge um den kranken Sohn Emil, der sich schon mal als Superman begreift, weil er sich Stifte durch die Hand bohren kann, ohne irgendwas dabei zu spüren. Andererseits bricht die junge Familie im entscheidenden Moment zu einer großen Reise auf: Alma möchte jenen Ort besuchen, der für den Großvater zur vielfachen Pein wurde.

Doch nicht das ehemalige Lager im heutigen Kasachstan, sondern der lange Weg dorthin wird schon bald zum Ziel für die drei, die auf der abenteuerlichen Fahrt dicht aneinanderrücken. Dieser Aufbruch ins Glück ist die eigentliche Antwort auf die Fragen, die Alma ihren Eltern und Großeltern gestellt hat.

Das generationsübergreifende Kriegstrauma verblasst und scheint bald nicht mal mehr als erzählerische Spiegelung für die Reisenden eine Rolle zu spielen. Statt ödes Familientheater, das sich um Vergangenes dreht, gibt es das wilde und skurrile Leben im Hier und Jetzt. Die Leere weicht, am Ende steht ein Lachen.

Valerie Frisch hat mit „Herzklappen von Johnson & Johnson“ einen Roman geschrieben, der gerade in seiner anspruchsvollen Formensprache überzeugt, der im kalten Prosafluss gekonnt kleine Wärmeinseln einbaut und damit an den wichtigen Stellen berührt und unterhält.

Carsten Otte

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