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Anverwandlung. Franz Boas demonstriert einen Ritus Pose der Kwakiutl. 

© Smithsonian

„Schule der Rebellen“ von Charles King: Franz Boas und seine Revolutionierung der Ethnologie

Charles King erzählt, wie der deutschstämmige Forscher Franz Boas und seine Schüler Anfang des 20. Jahrhunderts versuchten, die Anthropologie auf weniger rassistische Grundlagen zu stellen.

Man kann die Geschichte eines Faches, das zwischen Anthropologie und Ethnologie viele Namen kennt, als Wissenschaftskrimi erzählen, der die Kämpfe und Niederlagen, die Intrigen, die kleinen und große Siege offenlegt. Man kann daraus aber auch einen Befreiungsroman machen, der die unwahrscheinlichen Fügungen nachvollzieht, die seinen Protagonisten zuteil werden. 

Die „Schule der Rebellen“ tut beides. Charles King, Professor für internationale Politik in Washington, verfolgt die Biografien einer Gruppe von Wissenschaftlern, die zu Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA die Wissenschaft vom Menschen neu begründen wollten. Damit haben sie, so King, den Gang der Geschichte verändert.

Das 19. Jahrhundert ist noch nicht vorüber, als ein junger Physiker aus dem westfälischen Minden auszieht, um Ruhm zu erlangen: Bevor er zum ersten Mal nach Amerika kommt, lebt Franz Boas monatelang bei den Inuit in der Arktis, die er seine „Eskimos“ nennt. Ausgestattet mit Dutzenden von Notizbüchern, begibt er sich auf eine Expedition ins Ungewisse.

Einfluss auf Anthropologie im ganzen Land

Aus der alten, bürgerlichen Welt bringt er den familiären Diener mit, der ihm vom Vater zur Begleitung überlassen wird. Mit elterlichem Geld ist auch die Reise finanziert. Eine kleine Summe bringen immerhin die Meldungen aus dem „Baffin-Land“ für das „Berliner Tageblatt“ ein. Die wissenschaftliche Auswertung, ein nüchterner Bericht, der 1885 erscheint, lässt noch nicht erahnen, welche revolutionäre Kraft von Franz Boas ausgehen wird.

Die erste Amerika-Reise endet erfolglos. In der Neuen Welt hat Boas sich nach längerer Brieffreundschaft zwar verlobt, aber mangels professioneller Aussichten kehrt er über den Ozean zurück. Im zweiten Anlauf geht es besser – um 1900 schließlich dreht sich das Glück des Forschers. 

Kurz zuvor hat er eine Professur für Anthropologie an der Columbia University in New York erhalten. Dort bildet er Doktorandinnen und Doktoranden aus, die bald die Anthropologie-Abteilungen im ganzen Land aufbauen werden.

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Was King an den Wissenschaftlern interessiert, ist ein Stück amerikanischer Gesellschaftsgeschichte, die „Neuerfindung der Menschheit“, wie es im Original heißt. Es geht ihm um mehr als die wissenschaftliche Umwälzung, die empirische Ausrichtung, die ausgedehnte Feldforschung, die museale Aufbereitung. Es geht ihm um die ganz großen Fragen.

Der Titel der deutschsprachigen Ausgabe führt da in die Irre. Akzentuiert das Rebellische doch eher das wilde Leben und die akademischen Kämpfe, nicht die erzählerische Leitfrage nach dem Menschen. So forschten Boas und sein „verwegener Kreis“ in Zeiten, in denen Wissenschaftler von ihren Ausflügen „Trophäen“ mitbrachten: Individuen oder kleine Menschengruppen, lebende Exponate der Wissenschaft.

„Kultur“ war damals, was die Europäer und weißen Amerikaner hatten. Nicht besser dachten die meisten Wissenschaftler über den großen Teil der amerikanischen Bevölkerung, für den in Kaufhäusern abgesonderte Umkleidekabinen, in Parkanlagen isolierte Bänke und in Bussen die letzten Sitzreihen reserviert waren. Kings Buch zielt darauf ab, wie es Boas und seinen Schülern gelang, die Anthropologie auf weniger rassistische Grundlagen zu stellen. Das ist der eine Strang.

Aus Wissenschaftlern werden Helden

Der zweite ist geschlechterpolitisch. Von den vielen Boas-Schülern rückt King vier Frauen in den Mittelpunkt: Ruth Benedict, Zora Neale Hurston, Margaret Mead und Ella Deloria. Die Hindernisse für die jungen Anthropologinnen waren noch größer als für ihre männlichen Kollegen. Zora Neale Hurston musste sich ihren Weg in die Ivy League als Afroamerikanerin in Zeiten der „Rassentrennung“ erkämpfen. 

Margaret Mead bekam von ihrem älteren Kollegen Edward Sapir, auch er aus dem Boas-Kreis, beschieden, sie sei zu schwach für die Feldforschung. Er versuchte ihre erste Forschungsreise in die Südsee zu verhindern. Auf polynesischen Inseln befasste sie sich mit dem Verhalten von Kindern und Jugendlichen. Unerwartet wurde ihre Coming-of-Age-Studie „Kindheit und Jugend auf Samoa“ zum Bestseller.

Gerade weil King sich mehr für Politik als für Wissenschaft interessiert, kann er fokussiert erzählen. An der Anthropologie interessiert ihn der Freiheitskampf. So werden aus Wissenschaftlern Helden. Nein, die schwarze Rasse sei der weißen nicht unterlegen, schrieb Boas, selbst aus jüdischer Familie, einem Studenten aus Brooklyn: „Was ihr Lehrer sagt, ist Unsinn.“ 

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Bis zu 2500 Briefe jährlich erreichten Boas in den 1930er Jahren. Mead oder Benedict entwarfen in ihren Büchern neue Rollenmodelle für Mädchen und Frauen. Wie die Feldforschung ihnen half, das Korsett abzulegen, in das die Gesellschaft sie noch immer zwingen wollte, zeichnet King nach.

Was dachten die Samoaner über Margaret Mead? Wir erfahren es kaum, nur dass Mead die Briefe ihrer dortigen Bekanntschaften bald unbeantwortet ließ. Zu den skeptischen Gegenfragen drang die Anthropologie erst später vor: Marshall Sahlins interessierte sich vor allem dafür, wie die Hawaiianer Cook einordneten. 

Reflexiv sind auch die „Traurigen Tropen“ von Claude Lévi-Strauss angelegt. Als „ehrliches Schreiben“ begreift King dagegen seine Erzählhaltung. Die Treue will er nicht nur seinen Heldinnen halten, sondern auch ihrem Vokabular. Wenn Boas oder Mead von „Primitiven“ oder „Negern“ sprechen, müsse er das manchmal auch tun, nicht nur, wenn er Briefe oder Aufzeichnungen anführe.

Dass diese Bemerkung ausgerechnet einem Zitat zugeordnet ist, verrät am Ende etwas über die Schwachstellen des Buches. Die Reflexion hat ihr Verhältnis zum Abenteuer noch nicht geklärt. Die Heldengeschichte verdeckt Ambivalenzen. 
[Charles King: Schule der Rebellen. Wie ein Kreis verwegener Anthropologen Race, Sex und Gender erfand. Aus dem Englischen von Nikolaus de Palézieux. Hanser, München 2020. 480 Seiten, 28 €.]

Hendrikje Schauer

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