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Brüder im Geiste. Simon Rattle (links) und Daniel Barenboim.

© dpa

Schweigeminute in der Philharmonie: „Wir machen uns große Sorgen“

Simon Rattle und Daniel Barenboim veranstalteten ein Benefizkonzert zur Sanierung der Berliner Lindenoper. Hinsichtlich der Katastrophe in Japan rückte das Konzert in den Hintergrund.

Die Schweigeminute in der Philharmonie dauert zwar höchstens 15 reelle Sekunden, aber in diesen liegt mehr Musik als in den zweieinhalb engagierten Stunden danach. Es ist das Los dieser Tage auch hierzulande, wo man nicht um Leib und Leben bangt, sondern sich allenfalls überm atompolitischen Wetterhäuschen-Ballett der Bundesregierung die Haare rauft, dass sich kaum etwas mehr von selbst versteht. Beethoven nicht, Wagner nicht, der ganze Betrieb. Kunstvollzug und -genuss stehen unter dem Generalverdacht, noch weniger existenziell zu sein, noch peripherer als sonst. Es ist enorm schwer, zwischen Pathos und Zynismus, zwischen flammender Betroffenheit und allzu kaltem Blute eine Haltung zu finden, die niemanden verrät und doch nichts überfrachtet.

Ein Benefizkonzert also – sicher nicht das letzte – für die Sanierung der Berliner Lindenoper: Hat die Welt keine anderen Probleme? Simon Rattle am Pult der Staatskapelle, Daniel Barenboim am Klavier: Wollen wir ernsthaft anfangen (was wir ohne Fukushima zweifellos für wichtig hielten und lustvoll täten), an den beiden Heroen der Berliner Klassikszene und ihrem wohltätigen Zusammentreffen stilistisch-ästhetisch herumzukritteln?

Andererseits: Was wäre die Alternative, pars pro toto, zu solchen Abenden? Keine Musik mehr? Absurd. Den Erlös nach Japan schicken? Albern. Und überhaupt: Eine intakte Staatsoper ändert an der Reaktorkatastrophe am anderen Ende der Welt so wenig oder viel wie eine weiter vor sich hin rottende: nämlich gar nichts. Was nicht heißt, dass wir unserer Empathie entbunden wären. Im Gegenteil. Musikhören ist immer egoistisch und altruistisch zugleich, bedeutet Selbstvergessenheit und Weltvergessenheit, Versinken und sich Versenken, Mitfühlen, Mitleiden, lebendiges Angedenken.

Aus all dem zieht Daniel Barenboim – wer wenn nicht er? – anfangs die Konsequenz und greift zum Mikrofon. Spricht kurz und fast stockend, über Einsteins historische Warnung und unser akutes Erschrecken und fasst die Gedanken und Gefühle in einem Satz zusammen, der ehrlicher und schlichter nicht sein könnte: „Wir sind hilflos und machen uns große Sorgen.“ Es folgen die 15 Schweigesekunden, der Saal steht auf, und die übliche Geräuschkulisse aus Hustern, Rascheln und Wisperern verstummt mit einem Schlag.

Mit Beethovens drittem Klavierkonzert (in der Schicksalstonart c-Moll) und dem zweiten Akt aus Richard Wagners „Tristan“ stehen zwei Werke auf dem Programm, die miteinander und nebeneinander zwar wenig Sinn machen, in ihrer ekstatischen Düsternis jedoch den Finger in die Wunde legen. Dazu gehört, wie nervös, ja fiebrig Rattle und Barenboim sich im Beethoven-Konzert umeinander bemühen, tapfer gegen ihre doch sehr konträren Musizierhaltungen anarbeiten. Und dazu gehört auch, dass man Ian Storey (der als Tristan für Robert Dean Smith eingesprungen ist) sein harsches Rufen der Partie verzeiht. Reiner Goldberg hat einen kurzen Auftritt als Melot, Hanno Müller-Brachmann einen noch kürzeren als Kurwenal, Franz Josef Selig ist König Marke, der traurig Betrogene. Strahlend die Damen: Lioba Braun mit innigem „Habet acht!“ als Brangäne, Violeta Urmana mit ergreifender Linienführung und sinnlichen Spitzentönen als Isolde. Schade nur, dass es im Orchester, allem Luxus und Reichtum zum Trotz, so laut zugeht, dass man einmal mehr kaum ein Wort vom Wagner-Text versteht.

Flugs steht man wieder draußen, Zeitungsverkäufer reiben einem die Schlagzeilen des neuen Tages unter die Nase. „Wehr dich, Melot!“ – der „Tristan“-Akt endet mit Aplomb. Kein Schluss, um Schluss zu machen. Die Liebe der Japaner zur klassischen Musik gilt als sprichwörtlich. Wir wissen jetzt etwas besser, warum.

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