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Kultur: Schwelge oder schweige

Beinahe wären Coldplay an ihrem neuen Album gescheitert. Heute erscheint „X & Y“: Es ist ein Meisterwerk

Ende Mai ereignete sich in England eine kleine Kulturrevolution. Zum ersten Mal schaffte ein Klingelton den Sprung auf den ersten Platz der Single-Charts. Der „Crazy Frog“, ein Remix des AchtzigerJahre-Hits „Axel F“ aus dem Film „Beverly Hills Cop“, stürzte die Ballade „Speed Of Sound“ der britischen Band Coldplay vom Thron der Verkaufshitparade. Eine brabbelnde Amphibie, unterlegt mit nervenden Kreischrhythmen, triumphiert über ein filigranes Stück Pop-Kunst. Wer noch einen Beleg für den Niedergang alles Wahren, Schönen, Guten brauchte: Hier ist er.

Doch die Single-Charts, ein Barometer für das Konsumverhalten von Teenagern, haben ihre Relevanz ohnehin verloren. Geld zu verdienen, ist hauptsächlich mit Alben, Pop hat sich zum Erwachsenen-Medium gewandelt. Die Musikkonzerne, denen es gelang, ihre Bilanzen mit Sparmaßnahmen zu stabilisieren, setzen auf bewährte Erfolgsprodukte. Von ihrem Debüt „Parachutes“ (2000) hatten Coldplay fünf Millionen, vom Nachfolger „A Rush Of Blood To The Head“ (2002) elf Millionen Exemplare verkauft. Sie gelten, so der „Guardian“, als „größte Band des Planeten“. Und anders als Oasis und Robbie Williams scheinen sie auch den amerikanischen Markt knacken zu können. „Speed Of Sound“ stieg aus dem Stand in die Top Ten der Billboard-Charts ein, seit den Beatles 1968 war das keiner englischen Gruppe geglückt.

Eigentlich sollte das neue Coldplay-Album bereits im Weihnachtsgeschäft 2004 erscheinen. Die Arbeit hatte kurz nach einer Welttournee Ende 2003 begonnen. Am Ende brauchte es 18 Monate, die die Band in acht Studios, fünf Städten und zwei Ländern – den USA und Großbritannien – verbrachte, um die Platte fertig zu stellen. Coldplay wechselten den Produzenten aus und schrieben rund sechzig Songs, von denen sie fast alle wieder verwarfen. Der Erfolgsdruck war gewaltig, vor allem der Wunsch der Band, sich selbst zu übertreffen.

„Parachutes“, in sechs Wochen eingespielt, hatte seine Melancholie noch indiemäßig in skizzenhaften Klaviergitarrenpop verpackt. Bei „A Rush Of Blood To The Head“, Produktionszeit: sechs Monate, waren die Arrangements schon weitaus ausgefeilter. Die neue CD, so viel war klar, musste ein Pop-Denkmal werden. „Wir hätten schon vor zehn Monaten ein Album mit genügend Hit-Singles herausbringen können“, sagt Coldplay-Sänger Chris Martin jetzt. „Aber es hätte uns selber nicht weitergebracht.“ Als klar war, dass die Platte nicht mehr bis Ende März, dem offiziellen Ende des Geschäftsjahres, in die Läden kommen würde, gab die EMI, Plattenfirma der Band, eine Gewinnwarnung heraus. Am nächsten Tag sank der Kurs des Konzerns an der Londoner Börse um sechzehn Prozent. Chris Martin, ein erklärter Globalisierungskritiker, blieb unbeeindruckt: „Großaktionäre sind das große Böse unserer modernen Welt.“

Heute kommt „X & Y“ (Parlophone/EMI), so der Titel des Albums, nun endlich heraus. Das Warten hat sich gelohnt: Schwelgerischeren Pop hat man in diesem Jahrtausend noch nicht gehört. Ihre volle Schönheit entfalteten Coldplay-Songs schon immer erst beim zehnten, zwölften Hören, hier streben sie vollends ins Sakral-Bombastische. Psychedelisch dräuende Orgeln, U2-haft hallende Gitarren, die oft unisono einsetzende Wucht von Bass und Schlagzeug schichten sich zu zuckerbäckerhaften Klangarchitekturen übereinander, die mit dem nächsten Akkordwechsel schon wieder zusammenstürzen können, wie in der wunderbaren Liebes-Andacht „Fix You“, bei der am Ende Martins Stimme frohgemut flüstert: „Lights will guide you home.“ Das Eröffnungsstück „Square One“ beginnt mit sphärischem Blöken wie bei den frühen Genesis, „Talk“ mit einem Sample des Kraftwerk-Klassikers „Computer Love“.

„You and me are drifting into outer space“, schmachtet Martin, von Geigen begleitet, mit seiner berüchtigten gepressten Stimme in „X & Y“. Eine schüchterne Ode, vielleicht ein Treuegelöbnis an seine Ehefrau Gwyneth Paltrow, mit der er eine Tochter namens Apple hat. Der wispernde Gesang, die zerdehnten Gitarren verleihen dem Album etwas Spacehaft-Unwirkliches, die siruphafte Konsistenz der sanft fließenden Melodien erinnert an Schaumgebilde, die jederzeit ihre Gestalt ändern können. Jeder der zwölf auf „X & Y“ versammelten Titel – plus das ursprünglich für Johnny Cash geschriebene „Til Kingdom Come“ als hidden track – entführt in einen eigenen Kosmos. Die Makellosigkeit dieses Albums ist fast schon erschreckend.

Eine der erstaunlichsten Erfolgsgeschichten der jüngeren Musikgeschichte begann 1996 am Londoner University College, wo Chris Martin (heute 28) drei andere Neuankömmlinge aus der Provinz traf: Johnny Buckland (Gitarre), Guy Berryman (Bass) und Will Champion (Schlagzeug). Ihre erste EP produzierten sie in Eigenregie, kurz vor dem College-Examen ergatterten die Musiker einen Vertrag beim Traditionslabel Parlophone. Oasis-Entdecker Alan McGee hielt ihr Debüt „Parachutes“ für „Bettnässer-Musik.“ Heute gelten Coldplay bei der britischen Musikpresse als „die neuen U2“, einen Vergleich, den sie zurückweisen. Gemeint ist damit nicht bloß das Pathos ihrer Stücke, gemeint ist vor allem Chris Martin, der für vegetarische Kost und „Fair Trade“ eintritt, mit der Hilfsorganisation Oxfam nach Ghana reist und sich auch schon mal handfest mit Paparazzi anlegt. Ein Nachrücker für die Gutmenschen-Planstelle, die derzeit U2-Sänger Bono besetzt? Der „Guardian“ gibt Entwarnung: „Wenn man Bono ein Mikrofon hinhält, doziert er wie ein Staatsmann. Chris Martin wirkt hingegen immer wie dein unterhaltsamer, aber etwas konfuser Mitbewohner.“ Der Mann will wohl doch kein Messias sein.

Coldplay spielen am 19. Juni in der Berliner Wuhlheide.

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