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Kultur: Schwundfaktor Kultur: Bildung, Vielfalt, Solidarität

Vollmundig erklären Politiker stets, sich für die Belange der Kultur, ihre Wahrung und Weiterentwicklung einzusetzen. Das gilt gleichermaßen für die nationalen wie für die Europa-Politiker.

Vollmundig erklären Politiker stets, sich für die Belange der Kultur, ihre Wahrung und Weiterentwicklung einzusetzen. Das gilt gleichermaßen für die nationalen wie für die Europa-Politiker. Wirklich ernst gemeint sind derartige Erkenntnisse seltener; jedenfalls werden sie schnell vergessen, sobald es um Konkretes geht.

Präsident Jacques Chirac konnte sich des Beifalls im Berliner Reichstag sicher sein, als er vor wenigen Wochen die Entwicklung der Europäischen Union pries, "die zur Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen beiträgt und die kulturelle Vielfalt in der Welt achtet." Schon Altbundespräsident Roman Herzog hatte wiederholt den Dialog der Kulturen angemahnt und ihn als neue Essenz der Friedenspolitik bezeichnet. Nun hat unter seiner Leitung ein Konvent von 62 Mitgliedern die "Charta der Grundrechte der Europäischen Union" erarbeitet und den Entwurf am 28. Juli in Brüssel präsentiert.

Darin liest man einleitend: "Die Union gründet sich auf die unteilbaren und universellen Grundsätze der Würde der Männer und der Frauen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität; sie beruht auf dem Grundsatz der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit". Und: "Die Union trägt zur Entwicklung dieser gemeinsamen Werte unter Achtung der Vielfalt der Kulturen und Traditionen der Völker Europas ... bei". In drei Kapiteln folgen dann die konkretisierten Artikel zu "Freiheiten", "Gleichheit" und "Solidarität".

Die Spannung wächst mit der Lektüre der insgesamt 52 Artikel, zumal man bei mehreren freudige Zustimmung signalisieren kann. So zum Beispiel, wenn in Artikel 14 dekretiert wird: "Jede Person hat das Recht auf Bildung, sowie auf Zugang zur beruflichen Ausbildung und Weiterbildung". Auch liest man befriedigt im Kapitel "Solidarität" : "Der Schutz und die Erhaltung einer Umwelt mit guter Lebensqualität sowie die Verbesserung der Umweltqualität unter Berücksichtigung des Grundsatzes der nachhaltigen Entwicklung werden durch alle Politiker der Union sichergestellt". Damit ist ein Bereich der so genannten "Grundrechte der dritten Generation" für die künftige EU-Gesetzgebung verbindlich gesichert worden.

Doch wo bleibt Konkretisierendes zum Präambel-Komplex "Entwicklung der Vielfalt der Kulturen der Völker Europas"? Fehlanzeige! Nirgends kommen Begriff und Sache der Kultur im Charta-Entwurf vor: Es gibt kein "Recht auf Kultur", auf "Schutz der Kulturen" und Sprachen, etwa die der so genannten Minderheiten; und es gibt auch keinen Kunstfreiheits-Artikel. Dieses eklatante kulturpolitische Defizit ist auch deswegen so gravierend, weil offenbar eine verfassungsrechtliche "Vollregelung" - wie Juristen es nennen - im Gemeinschaftsrecht mit der Charta angestrebt wurde.

Nun hat die Europäische Gemeinschaft seit ihrem Anfang mit den Römischen Verträgen von 1957 ihre Schwierigkeiten mit Kultur und Bildung - anders als der ältere Europarat, der seit seiner Gründung und namentlich mit seiner Kulturkonvention (von 1954) Kulturpolitik als eine seiner Kernaufgabe versteht. Die Verträge der Europäischen Gemeinschaft wissen hingegen von Kultur und auch von Bildung (mit Ausnahme der Berufsbildung) bis in die achtziger Jahre nichts. Dabei gab es bereits in den siebziger Jahren Vorlagen der Kommission zu "Aktionen im kulturellen Bereich". Bekanntlich soll Jean Monet, das kulturelle Defizit vor Augen, gesagt haben: Wenn er noch einmal anfinge, würde er mit der Kultur beginnen, nicht mit der Wirtschaft!

Verpflichtung zur Vielfalt

Es leuchtet überhaupt nicht ein, warum der Charta-Entwurf der Herzog-Kommission einen Politikbereich unberücksichtigt, also ungeregelt lässt, der inzwischen fester Bestandteil von Gemeinschaftsverträgen und -rechten ist. Die über zwanzigjährige kulturpolitische Entwicklungsphase der Gemeinschaft, beginnend mit den schon genannten Kultur-Aktionen der Kommission, der Genscher-Colombo-Initiative (die mit der "Feierlichen Erklärung" von Stuttgart 1983 abschloss), den zahlreichen Beschlüssen des Europäischen Parlaments seit seiner Direktwahl 1979 fand schließlich ihren Abschluß in dem Kulturartikel im Maastricht-Vertrag von 1992 und seiner Erweiterung im Amsterdamer Vertrag im Jahr 199): "Die Gemeinschaft leistet einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedsstaaten... unter gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes".

Nach der darauf folgenden Auflistung konkreter "Tätigkeiten" und dem Bekenntnis zur Zusammenarbeit mit Dritten Ländern" folgt die wichtigste kulturpolitische Gemeinschaftsmaxime, die ähnlich deutlich bislang in keinem nationalen Gesetzbuch steht: "Die Gemeinschaft trägt bei ihrer Tätigkeit auf Grund anderer Bestimmungen dieses Vertrages den kulturellen Aspekten Rechnung, insbesondere zur Wahrung und Förderung der Vielfalt der Kulturen."

Diese Klausel für den gesamten Bereich der EU-Tätigkeiten in einer Charta unberücksichtigt zu lassen, wäre ein Rückschritt. Nicht nur für die europäische Kulturpolitik, sondern insgesamt für die gesellschaftspolitische Akzeptanz der Europäischen Union, einer Gemeinschaft, die "in den Herzen seiner Bürger zu verankern ist", wie Chirac es in Berlin formulierte.

Bei der Vorstellung des Entwurfs hatte Roman Herzog darum gebeten, ihm "grobe Schnitzer" oder andere "gravierende Fehler" doch bitte zu vermelden: Dafür haben die Parlamentsmitglieder nun allen Anlass!

Olaf Schwencke

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