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Im Linienkreuz. Sean Scully vor einem seiner Gemälde.

© Liliane Tomasko

Sean Scully in Karlsruhe: Sonne, Sand und späte Trauer

Von den sechziger Jahren bis heute: Die Karlsruher Kunsthalle würdigt den abstrakten US-Maler Sean Scully mit einer großen Retrospektive.

Der Film erklärt alles und nichts. Er zeigt Sean Scully in seinem Atelier vor einem monumentalen Streifenbild. Scully malt, tritt zurück, verwirft das Motiv, malt neue Streifen in wechselnden Farbkombinationen. Bis er endlich zufrieden ist. Fünf, sechs Bildschichten liegen unter dieser letzten Version, und der Besucher der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe kennt nun den Grund jener soghaften Wirkung, die sich vor der Malerei einstellt. Man ahnt die Tiefe, ohne sie durchdringen zu können. Keine Antwort gibt es jedoch darauf, was Scully zu seiner Entscheidung führt: Für den Zuschauer sahen alle Kombinationen gleich gut aus.

Zwei Jahrzehnte ist das Porträt her und Scully in der Zwischenzeit noch etwas wichtiger in der internationalen Kunstwelt. Er gilt als einer der großen Vertreter der Abstraktion, seine Ateliers befinden sich in New York, nahe Berlin und dem Starnberger See. Die Vergangenheit füllen Solopräsentationen von Shanghai bis Liechtenstein, bis 2007 lehrte er an der Münchner Kunstakademie.

Ob ihn die Zeit auch souveräner gemacht hat, kann man bezweifeln angesichts der Anspannung, mit der er sich kurz vor der Eröffnung in Karlsruhe durch die eigene Ausstellung bewegt. Knapp 130 Werke – Gemälde, Pastelle, Aquarelle, Zeichnungen, dazu Druckgrafik und Fotografie – versammelt das Haus. Im nächsten Jahr übernimmt das das LWL-Museum für Kunst in Münster die Werkschau in modifizierter Form. Beide tragen sie den Titel „Vita Duplex“ und rekapitulieren Scullys Entwicklung seit den sechziger Jahren bis heute.

Von Widersprüchen geprägte Bilderwelt

Man steigt ein bei den frühen New Yorker Rasterbildern, passiert Leinwände, die er in Rechtecke unterteilt und mit immer neuen Kombinationen aus Horizontalen und Vertikalen füllt. Den Schluss markieren Würfelformen auf Aluminium, die Flächenmalerei weicht der Parallelperspektive. Scully sieht die Hängung seiner Arbeiten zum ersten Mal: Während der Vorbereitungen war er in St. Petersburg, um eine andere Präsentation im Marble Palace zu eröffnen. Gleich nach Karlsruhe reist er weiter ins niederländische Tilburg, wo das De Pont Museum mit der Ausstellung „Landlines and other recent Works“ ebenfalls einen Einblick in sein Œuvre gewährt. Es ist Scullys Jahr – und der 73-Jährige schaut sich in der Karlsruher Kunsthalle erst leicht distanziert, dann sichtbar zufrieden um. Als sei dies das Werk eines anderen, das es kritisch zu begutachten gilt.

Tatsächlich hat er der Kuratorin Kirsten Claudia Voigt vieles überlassen. Sie entschied sich für thematische Gruppierungen in den Sälen der Kunsthalle und ebenso für eine Übersetzung von Scullys englischsprachigen Texten, die seine malerische Arbeit seit dem Studium begleiten. „Vita Duplex“, wie der Titel der Ausstellung, heißt nicht bloß ein Bild von 1993, dessen geometrische Formen konträre Zustände wie Ordnung und Chaos, Ruhe und Bewegung versinnbildlichen. Diese Dualität versteht sie geradezu als Schlüssel, um sich zum Kern von Scullys Denken vorzuarbeiten. Ein Künstler, der noch als Student in England nach seiner intensiven Auseinandersetzung mit den Bildern von Piet Mondrian zu strengen Gitterstrukturen kommt. Und diese aufgibt, als er Anfang der siebziger Jahre nach New York geht – weil ihm dort, in der Konfrontation mit dem alles beherrschenden Minimalismus, die Seele, das Dynamische fehlt. Sein Vokabular bleibt streng abstrakt, doch die Beweglichkeit des Denkens und des Lebens manifestiert sich in Scullys individueller Handschrift. Seine Linien sind von Hand gezogen, schief und unregelmäßig, die Farbflächen prägen sichtbare Pinselspuren. In dieser von Widersprüchen geprägten Bilderwelt entdeckt Voigt alle Facetten menschlicher Existenz: „Fiktion, Empathie, Panik, das Absolute, Spiritualität, Emotionen, Licht, Subversion.“

Arbeiten als „Selbstbildnisse“

Dass dies alles in einem Werk aus Linien zur Sprache kommt, klingt abwegig. Doch der Gang durch die Ausstellung überzeugt mit seinem Farb- und Formreichtum, Scullys rhythmischen Variationen liegender wie stehender Flächen und den inneren Zuständen, die jeder Raum aufs Neue erzeugt. Eine große Rolle spielen die Farben. Grün- oder Blautöne in allen Nuancen, Ockerrot und Indischgelb wecken Assoziationen an Felder, Himmel, Sand, Sonne. Eine wuchtige Komposition wie „Durango“ von 1990 verschließt sich dagegen mit ihren schwarzen und grauen Feldern, ihrer hermetischen Oberfläche, die einem Flechtwerk ähnelt. Scully, der seine Arbeiten stets als „Selbstbildnisse“ beschreibt, verlor ein paar Jahre zuvor seinen Sohn – und man kommt nicht darum, „Durango“ als Ausdruck unendlicher Trauer zu begreifen.

In Serien wie „Landline“ konkretisiert sich ebenso wie in den Einzelbildern „Roma“, „Winter Days“ oder „What Makes Us“ (2017), einer vierteilige Reflexion über das Dasein, das Bezugsfeld des Künstlers. Seine waagerechten Linien ziehen die Horizontachse, die vertikalen Balken können alles zwischen Vorder- und Hintergrund symbolisieren: Bäume, Architektur, Menschen, ein Schiff. In den großen Bildern befindet sich oft noch ein kleines, Sean Scully schneidet die Leinwand auf und setzt ein zweites Motiv ein. Man würde es kaum merken, wären die Streifen auf dieser Leinwand nicht gegenläufig.

Der Künstler erklärt ihre Anwesenheit mit einer Geschichte aus seiner Kindheit – der Überfahrt von Irland nach England 1949, bei der die Mutter den Vierjährigen eine „besondere Fracht“ auf dem Schiff nennt. Aber natürlich passt das kleine, vom größeren Werk umfangene Fragment, das seinerseits als Störer fungiert, auch großartig in einen Kosmos der Dualitäten.

Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, bis 5. 8., Di bis So 10 – 18 Uhr

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