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Kultur: SeelenspektakelTanz: Sidi Cherkaouis „Myth“ im Hebbel am Ufer

Bücherlesen kann gefährlich sein. Das legt zumindest „Myth“, die Produktion des Choreografen Sidi Larbi Cherkaoui mit dem Toneelhuis Antwerpen nahe.

Von Sandra Luzina

Bücherlesen kann gefährlich sein. Das legt zumindest „Myth“, die Produktion des Choreografen Sidi Larbi Cherkaoui mit dem Toneelhuis Antwerpen nahe. Schauplatz von „Myth“ ist eine Bibliothek. Zitate von Dante und da Vinci sind den Szenen vorangestellt. In „Foi“, Cherkaouis bekanntester Produktion, ging es um den Glauben und den Kampf der Religionen. Nun ist er unter die Mythenforscher gegangen – beeinflusst von C. G. Jungs Lehre von den Archetypen. Bei dem belgischen Choreografen begegnen wir immer wieder spirituellen Sinnsuchern – und aus dem Disput der Lehrmeinungen wird bei ihm komisches Palaver.

Dass Cherkaoui zum gefeierten Protagonisten eines Multikulti-Theaters wurde, liegt nicht nur daran, dass er mit Tänzern unterschiedlicher Herkunft arbeitet und ein geschmeidig-durchlässiges Idiom entwickelt hat. Der Choreograf, Sohn marokkanischer Einwanderer, schöpft aus unterschiedlichen Quellen – östlichen und westlichen – und ist zudem ein passionierter Musikethnologe. In „Myth“ thront das auf Alte Musik aus Italien spezialisierte Ensemble Micrologus über dem Geschehen im Berliner HAU, während Sängerin Patrizia Bovi den Bedrängten zur Seite steht. Die sieben Personen, die in der Bibliothek eingesperrt sind, befinden sich nämlich in einer Art Vorhölle. Schwarz gekleidete Gestalten kriechen aus den Regalen – Schatten, die die Verzweifelten verfolgen. Der alten Jungfer kriechen die Plagegeister unter den Rock, auch die keusche Betschwester führen sie in Versuchung.

Szenen, die von unterdrückten sexuelle Wünschen erzählen und überhaupt vom Verdrängten. Doch auch wenn sich die Protagonisten mal wie Höllenhunde aufführen, wirken sie eher putzig. Auf der Bühne entfesseln sie herrliche Turbulenzen – und sogar aus dem ewigen Kampf zwischen Licht und Dunkelheit macht Cherkaoui eine rasante Tanznummer. Die Tänzer sind fantastisch, und singen können sie obendrein. Auch die beiden behinderten Darsteller sorgen für großartige Momente.

Der junge Mann, der zuletzt durch die Pforte tritt, wird schlussendlich zum Gekreuzigten. Der Choreograf steht zwar im Bund mit den dunklen Mächten, doch er meint es gut mit den Menschen. „Myth“ wird so zum leichtfüßigen Allerseelen-Spektakel – ideal für den modernen Heilssucher. Sandra Luzina

HAU 1, wieder heute um 19. 30 Uhr

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