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Kultur: Segen der Hinterlist

Peter von Matt, der morgen den Heinrich-Mann-Preis erhält, hat ein brillantes Buch über die Kunst der Intrige geschrieben

Nichts ist den Menschen so unerträglich wie ein leerer Himmel. Ob sie Götter hineinfantasieren, Dämonen oder gar die politische Weltverschwörung: Besser, da oben ist irgendetwas und nicht vielmehr nichts. Die Aufklärung ist kein zielgerichteter Prozess, der irgendwann ans Ende kommt, um in eine befriedete Gesellschaft schlichter Humanität zu münden. Zeiten des Glaubens und Zeiten der Aufklärung wechseln einander ab und stehen im Wettstreit. Dass die Ersteren für Kunst und Kultur günstiger sind, das war nicht nur Goethes tiefe Überzeugung. Auch Peter von Matt, der Schweizer Emeritus und derzeit vielleicht brillanteste Literaturwissenschaftler, von der intellektuellen Statur her eher ein Rationalist, hängt ihr insgeheim an. Und diese zwei Seelen in seiner Brust, die rationalistische und die mythisch-magische, sorgen dafür, dass sein neues Buch eine wunderbar kluge Tragikomödie menschlicher Verhaltensformen geworden ist.

Es hilft ja nichts: Die Aufklärung mag eine gute Sache sein, aber sie ist langweilig. So langweilig wie jede Literaturwissenschaft, die nur vom Geist der Erkenntnis, nicht aber auch vom Eros getrieben wird. Wer nur wissen will, wie Kunstwerke funktionieren und sich nie von ihnen anstecken, begeistern, überrumpeln lässt, der kann vielleicht Professor werden, niemals aber Inspirator. Und ein solcher ist Peter von Matt in diesem Buch, das von der Intrige spricht, aber weit mehr ist als eine Motivgeschichte.

„Die Intrige – Theorie und Praxis der Hinterlist“ handelt von menschlichen Umgangsformen und den Epochen, die ihre jeweilige Gestalt definieren. Sie geben vor, wie man sich verhalten und was man sagen kann. Die Ausdrucksmöglichkeiten des Einzelnen sind von der Gemeinschaft geprägt, in der er lebt. Diesem Phänomen ist von Matt so kundig auf der Spur, dass ihm unter der Hand auch eine poetisch inspirierte Mentalitätsgeschichte gelungen ist. In jedem Augenblick seinem Gegenstand gewachsen, spielt er dennoch nie den Trumpf des überlegenen Nachgeborenen aus.

„Die Intrige“ folgt einer virtuosen Dramaturgie, ist spannend bis zur letzten Seite, in großen Bögen erzählt, angereichert mit lauter Abzweigungen und Nebengeschichten. Mal geht es zügig voran und die Jahrhunderte rasen dahin, dann folgt die Analyse wieder geduldig der Mikrostruktur eines Textes. Auf die Chronologie kann dieser Autor getrost verzichten. Die Werke erhellen sich gegenseitig, über alle Zeiten und Umbrüche hinweg.

Die Konzentration auf die Intrige ist dabei ein genialer Schachzug. Auch Peter von Matts frühere Bücher, „Das Schicksal der Phantasie“ oder „Liebesverrat“ (über „Familiendesaster“ das eine, über die „Treulosen“ das andere), waren glänzend geschriebene literaturwissenschaftliche Erkundungen. Sein neues ist noch geschmeidiger, nicht zuletzt deshalb, weil der Autor viel selbstverständlicher aus dem Feld der Literatur hinaustanzt. „Theorie und Praxis der Hinterlist“ – ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Aber es ist durchaus so, dass dies ein listiges Buch ist. Peter von Matt schmuggelt uns eine gute Portion Lebenserfahrung unter, er versteckt sich nur zum Schein hinter der Maske des Literaturwissenschaftlers. Oft genug stehen da die ungeschützten Behauptungen eines Lebenskundlers. Etwa diese: „Jede Liebe ist ungerecht, also auch die Liebe der Eltern.“

Da geht es um eine alte Geschichte, um Jakob, der sich den Segen seines Vaters erschleicht. Und unversehens geht es auch um uns. Weil Peter von Matt genau hinsieht. Jedem vertraut ist der Betrug, den Jakob an seinem Bruder Esau und seinem Vater Isaak vollzieht, indem er sich als sein erstgeborener Bruder verkleidet, den der Vater am Ende seines Lebens segnen will. Weniger vertraut ist man mit der Tatsache, dass die Drahtzieherin hinter der Sache Rebekka, die Mutter der Brüder, ist. Weil sie den zarten Jakob, der sich gern bei ihr verkriecht, dem derben Tatmenschen Esau vorzieht, ist es ihr unerträglich, dass nicht er, der Liebling, durch den väterlichen Segen ausgezeichnet und geschützt werden soll.

Die Bibel versteckt den entscheidenden Augenblick im Dialog, den sie mit Jakob führt. Auf ihn steuert Peter von Matt mit dem geschulten Blick des Intrigenspezialisten zu. Rebekka hat mit angehört, wie Isaak Esau beauftragte, ein Wild für ihn zu jagen, das er essen möchte, bevor er Esau segnen will. Die Bibel gibt diesen Vorgang nur im indirekten Bericht Rebekkas an Jakob wieder. Der Intrigenplan, konstitutives Element jeder Intrige, wird vor dem Leser nicht ausgebreitet – auch die Bibel kennt literarische „Kunstgriffe“–, sondern in „der Rede der Frau, als dialogische Sekunde“ versteckt.

Mit methodischem Blick liest man besser, zumal wenn man wie von Matt die Kunst beherrscht, nicht einfach nur ein Modell zu basteln, das man sich dann fix und fertig auf die Interpretennase setzt. Er modifiziert sein Intrigen-Modell nach Bedarf, es entsteht im Wechselspiel mit der Literatur immer wieder neu. Aber es gibt bestimmte Elemente, die in unterschiedlicher Gewichtung auftreten.

Zunächst kommt es zu einer „Notsituation“. Im obigen Beispiel wäre das die Erkenntnis Rebekkas, dass der Vatersegen für Esau unmittelbar bevorsteht und dass sie das auf keinen Fall will, weil sonst der geliebte Jakob leer ausgeht. Darauf folgt die „Zielfantasie“ (Jakob soll den Segen erhalten), die Auswahl des „Intrigenopfers“ (Esau), dann geht es weiter über „Plan und Planszene“ (während Esau noch jagt, muss sich Jakob als dieser ausgeben). Bei der Durchführung kommen verschiedene „Formen der Verstellung“ zur Anwendung, „Verkleidung“, „Intrigenstimme“, „Intrigenrequisit“; all das ist beim biblischen Beispiel vorhanden, in anderen Fällen folgen manchmal „Gegenintrigen“. Am Ende stehen immer „Sieg oder Niederlage des Intriganten respektive des Opfers in der Anagnorisis“, also in der Enthüllung der Wahrheit.

Methodisch gerüstet, zieht Peter von Matt in die Schlacht um die Neuinterpretation literarischer Schlüsselszenen und befreit sie aus dem Korsett verstaubten Bildungsguts. Da zärteln Odysseus und Athene, die Göttin des klaren Denkens, ein bisschen länger als bei Homer „am Fuß des heiligen Ölbaums“. Denn dem Autor gefällt diese zarte Verbindung zwischen dem heimkehrenden Helden und der lachenden Athene – ausgerechnet ihr, „der Göttin selbst“, will er seine Lügengeschichten auftischen!

Da wird die tragische Größe der euripideischen Medea, der Mörderin ihrer eigenen Kinder, deutlicher ins Licht gestellt und ihre zornige Rede über die Ungerechtigkeit der Geschlechterdifferenz mit Zustimmung zitiert. Der genaue Blick des Interpreten erkennt auch die gegensätzliche Argumentationsstruktur der beiden aufeinander losgelassenen Ex-Partner und erklärt die weibliche schlicht für die logischere.

Während Medea die Basis der Geschlechterdifferenz in der sozialen Struktur des vaterrechtlichen Griechenland sieht, argumentiert Jason mit der natürlichen Beschaffenheit der Frau und träumt gar den „ältesten Männertraum“: dass ein Mann Kinder auch „ohne das Zutun einer Frau“ in die Welt setzen könnte. Und wie nebenbei erinnert er an die eklatante Bedeutung des Ruhms im antiken Griechenland. Auf diesen nämlich, die zeitgemäße Form der Unsterblichkeit, gleichsam als Sternbild am Himmel zu thronen, ist Medea aus. Sie ist also weit mehr als eine eifersüchtige Frau, was wir, die „Produkte der bürgerlichen Bescheidenheitsethik“, kaum mehr zu sehen vermögen.

Shakespeares Richard III., Inbegriff des brutalen Täters, wird zum seelenverwandten Bruder Hamlets, des beispielhaft Tatgehemmten. Denn beide sind sich in ihrer Einsamkeit gleich. Im berühmten, fast Formelqualität annehmenden Satz aus Richards Monolog, „I am I“, erkennt von Matt „die kürzeste Doppelgängergeschichte der Weltliteratur“.

Nach der Französischen Revolution ist der klassische Ort der neuzeitlichen Intrige, die feudale Gesellschaft, aus der Theaterproduktion verschwunden. Die Intrige verlagert sich vom Hof in die Metropole und zum Roman. Balzac und Zola sind die großen Intrigenkenner des 19. Jahrhunderts. Ins 20. führt dann nur noch ein schmaler Pfad. Er gabelt sich zur Hochkultur eines Thomas Bernhard und zu Kriminal- und Spionageromanen. Dass daneben gerade noch Strindberg und Max Frisch ausführlicher zur Sprache kommen, dürfte zum allerwenigsten daran liegen, dass von Matt plötzlich der Schwung verlassen hat.

Allem Anschein zum Trotz scheint unsere Zeit nicht besonders intrigentauglich zu sein. Im Medienzeitalter kann eine Intrige zwar noch simuliert werden – wie die wechselseitige Zuschreibung George W. Bushs und Osama bin Ladens, der jeweils andere sei der „große Satan“, beweist –, aber nicht mehr durchzuführen ist. Denn zur Intrige gehört Übersicht über Opfer, Mittel und Wege der Durchführung. Sie ist heute nicht mehr zu haben. Keiner kann das Bild, das er abgibt, noch kontrollieren, sobald es einmal in die Medien eingespeist ist. Politiker und Prominente wissen davon ein Lied zu singen.

Peter von Matt: Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist. Hanser Verlag, München 2006. 500 Seiten, 25,90 €. – Die Verleihung des Heinrich-Mann-Preises an Peter von Matt mit einer Dankesrede findet morgen um 20 Uhr in der Berliner Akademie der Künste am Pariser Platz statt.

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