zum Hauptinhalt

SEHEN: Physiker an die Front!

Der Anspruch, gesellschaftlich relevant zu sein, wird ja im Theater seit jeher großgeschrieben. Stadt- und Staatstheater suchen Wesentlichkeit dabei vornehmlich in Kanon-Klassikern oder auch in neuen Dramen-Texten: Wie fündig man dabei werden kann, zeigt unter anderem der starke Jahrgang der soeben zu Ende gegangenen Mülheimer „Stücke“, des wichtigsten Festivals für deutschsprachige Gegenwartsdramatik.

Der Anspruch, gesellschaftlich relevant zu sein, wird ja im Theater seit jeher großgeschrieben. Stadt- und Staatstheater suchen Wesentlichkeit dabei vornehmlich in Kanon-Klassikern oder auch in neuen Dramen-Texten: Wie fündig man dabei werden kann, zeigt unter anderem der starke Jahrgang der soeben zu Ende gegangenen Mülheimer „Stücke“, des wichtigsten Festivals für deutschsprachige Gegenwartsdramatik.

Das Gros der freien Szene indes hat sich schon länger von dieser Textform verabschiedet: Dass dort Dramentexte inszeniert werden, hat inzwischen Seltenheitswert. Stattdessen ist seit den 90er Jahren das Rechercheformat auf dem Vormarsch. Man entblättert Familiengeschichte oder interviewt Sexarbeiterinnen und Herzchirurgen. Seit um die Jahrtausendwende das Regiekollektiv Rimini Protokoll begann, den Theaterbetrieb mit seinen „Experten des Alltags“ neu zu beleben, hat sich das Expertentheater zu Recht zum festen Genre gemausert: Nicht nur das, was auf der Bühne verhandelt wird, entstammt der Wirklichkeit, sondern auch die Akteure selbst sind echt.

Blickt man auf die aktuellen Monatspläne der (erfreulich zahlreichen) freien Berliner Theater, fällt noch eine weitere Tendenz auf: Theatermacher lassen sich mittlerweile häufig direkt von der Wissenschaft inspirieren. Sie beschränken sich zum Zwecke der Gegenwartsanalyse nicht mehr auf literarische Felder, sondern bedienen sich bei Physik, Mathematik oder Soziologie und betreiben eine Art künstlerische Forschung – was nicht immer gut geht, weil sie sich im Doppelanspruch gelegentlich derart verheddern, dass sie sich gleich an beiden Fronten unterbieten.

Prinzipiell handelt es sich allerdings um eine ziemlich verheißungsvolle Tendenz, die der Abschottung – dem wohl populärsten Vorwurf, der an die Theaterkunst ergeht – idealiter deutlich entgegenwirkt. Und dass man damit nicht früh genug anfangen kann, beweist – einmal mehr – das Kinder- und Jugendtheater an der Parkaue. Das gehört zwar nicht zur freien Szene, sondern reüssiert unter dem schicken Beinamen „Junges Staatstheater“. Dafür lässt es viele innovative freie Künstler bei sich inszenieren und öffnet dem Zuschauernachwuchs so die Augen für theatrale Handschriften-Vielfalt. „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“ (Dienstag 18 Uhr, 5.–7.6., 10 Uhr) heißt ein Projekt, das auf der Forschungsgrundlage des 2002 verstorbenen Physikers Heinz von Foerster menschliche Wahrnehmung untersucht. Wie sehen wir die Welt? Können verschiedene Beobachter das Gleiche sehen? Oder erfindet sich jeder seine eigene Wirklichkeit?

Um die Konstruktion von Wahrheit und Wirklichkeit geht es auch in Sebastian Krähenbühls Recherche über seine Großmutter (Titel: „Die Bedürfnisse der Pflanzen“) im Theaterdiscounter (täglich bis Do, 20 Uhr). Und im Theater unterm Dach wagt sich das HOR-Künstlerkollektiv mit der philosophischen Revue „Um nichts in der Welt“ (8./9.6., 20 Uhr) gleich an eines der interessantesten Sujets der denkenden Zunft überhaupt: das Nichts.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false