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Kultur: Sehnsucht nach dem großen Wir

Vor der Staatsopern-Premiere: Alain Platel über Religion, Ekstase und sein Tanzstück „Vespero“

Monsieur Platel, mit Ihrer radikalen Mozart-Interpretation „Wolf“ wurden Sie 2004 beim Berliner Theatertreffen bejubelt. Das neue Stück „Vespero“ wird nun im Rahmen des Kunst- und Kulturprogramms der Bundesregierung zur Fußball-Weltmeisterschaft gezeigt. Hat es überhaupt etwas mit Fußball zu tun?

Das hat mich auch die Fifa gefragt. Ich dachte zuerst, das sei ein Scherz, aber außer mir lachte niemand, da merkte ich, dass es ihnen ernst war. Ich hatte anfangs wirklich daran gedacht, eine ironische Verbindung zum Fußball herzustellen, habe die Idee aber schnell verworfen. Also: Es gibt keine Verbindung zum Fußball! Außer der, dass Fußballspieler und Tänzer beide sehr physische Menschen sind.

In Ihrem Stück „Iets op Bach“ prallt die Musik von Bach auf eine schäbige Realität. Die Kantaten und Choräle wirken überirdisch schön, zugleich aber tröstlich angesichts der irdischen Not. „Vespero“ basiert auf Monteverdis Marienvesper. Haben Sie eine Vorliebe für sakrale Musik?

Für mich ist Bach mehr als nur geistliche Musik. Monteverdis Marienvesper dagegen ist eine rein sakrale Musik. Es war Frie Leysen vom Kunsten Festival des Arts in Brüssel, die mir Monteverdi vorgeschlagen hat. Sie dachte dabei eher an eine seiner Opern, meine Wahl fiel aber sofort auf die Marienvesper. Das ist eine sehr persönliche Entscheidung: Ich liebe diese Musik seit meiner Jugend.

Sie haben immer wieder hervorragende Musiker für Ihre Projekte gewinnen können. Diesmal ist Fabrizio Cassol der musikalische Leiter. Wie sind Sie auf den Jazzmusiker aufmerksam geworden?

Fabrizio Cassol ist der Leiter des Jazzensembles Aka Moon. Er ist durch die ganze Welt gereist, hat mit Musikern unterschiedlicher Herkunft zusammengearbeitet. Kennen gelernt habe ich ihn in Jerusalem. Beide glauben wir, dass dies ein Zeichen der heiligen Maria war. Wir stellten nämlich fest, dass wir in besonderer Weise von Monteverdis Marienvesper fasziniert sind. Fabrizio Cassol komponierte eine neue Musik, die darauf basiert und meiner Idee folgt, sie mit der Musik der Sinti und Roma zu verknüpfen.

Außenseiter und Autisten bewohnen das Platel-Universum. Welche unheiligen Kreaturen schicken Sie diesmal auf die Bühne?

Die Menschen auf der Bühne sehen diesmal nicht so komisch aus. Sie erscheinen auf den ersten Blick sogar normal. Die Zuschauer können sich in diesen Figuren wiederfinden. Die Darsteller haben aber alle ihren besonderen Weg, das auszudrücken, worum es geht: um glauben und nicht glauben. Den Tänzern habe ich zu Beginn der Proben erklärt: Ich stelle mir eine Gruppe von Menschen vor, die zusammen eine außergewöhnliche Erfahrung machen. Wir nennen es Ekstase. Durch die Musik und den Tanz erreichen sie diesen Zustand der Ekstase.

Die Ekstase wird in anderen Kulturen mit religiösen Praktiken und spirituellen Erfahrungen verbunden. Bei uns denkt man eher an Techno- und Trance-Partys, wo der Einzelne mit der Masse verschmilzt. Auf welche Erfahrung zielen Sie ab?

Beides sind Formen, mit denen ein tiefes Wissen zum Ausdruck kommt. Bei mir wird daraus eine eher bedrückende Erfahrung. Die Ektase ist ein Versuch herauszufinden, warum wir hier sind, ein profaner Weg, um sich mit der religiösen Frage auseinander zu setzen. Wie finden die Tänzer den Zugang zu dieser extremen Erfahrung?

Ich habe ihnen Filme gezeigt. Einer ist eine Dokumentation über Patienten der Psychiatrie, die um 1904 von ihrem Arzt gefilmt wurden. Die meisten dieser Patienten fallen durch hysterische Bewegungen auf. Die Tänzer haben das als Material benutzt, das sie transformieren und mit eigenen Bewegungen verbinden.

Ein düsteres Kapitel in der Geschichte der Medizin: Die Hysterikerinnen wurden von ihren Ärzten regelrecht ausgestellt. Wenn Sie sich nun deren Körpersprache künstlerisch aneignen, dann doch sicher nicht, um sie zu pathologisieren?

Heute haben wir ein anderes Verständnis von Hysterie. Für mich steckt dahinter der verzweifelte Wunsch zu kommunizieren. Diese Verzweiflung sehe ich heute überall. Sobald wir in unser Inneres schauen, stellt sich immer dieselbe Frage: Warum bin ich auf der Welt? Das ist eine traumatisierende Frage. Für mich grenzt es an ein Wunder, dass wir uns alle so gut benehmen, obwohl wir mit solchen Lebensfragen konfrontiert sind.

Stellen Sie diese Frage nicht in all Ihren Stücken: Warum existieren wir?

Ich glaube, in allen meinen Stücken ist die religiöse Sphäre präsent. Aber diesmal umkreise ich das Thema nicht, sondern richte den Fokus direkt darauf. Ich versuche, die Worte aus der Marienvesper ernst zu nehmen, sie nicht zu ironisieren. Mich interessiert: Was fangen wir heute mit solchen Texten an? Die Frage nach der Religion ist zurzeit sehr aktuell, außerdem trifft man sowohl in der katholischen Kirche ebenso wie in der islamischen Welt auf rückwärts gewandtes Denken.

Sind Sie eigentlich ein religiöser Mensch?

Ich glaube ja. Aber auf eine sehr persönliche Weise. Lassen Sie es mich so formulieren: Ich würde gern an etwas glauben.

Jedenfalls glauben Sie an den Menschen. In Ihren Stücken ist die spirituelle Dimension mit sozialer Sensibilität gepaart.

„Vespero“ ist ein Wendepunkt in meiner Arbeit. In meinen früheren Stücken habe ich das Individuelle betont. Die Marienvesper gilt als ein Schlüsselwerk in der Geschichte der sakralen Musik. Vorher wurde die Beziehung des Menschen zu Gott thematisiert, in den Vespern taucht auf einmal das Ich auf. Diese Ich-Erfahrung war neu. In meiner Inszenierung suche ich aber nach dem Gegenteil. Ich spreche von dem Ich, das zum Wir wird.

Sie haben für „Vespero“ zehn Tänzer aus neun Nationen zusammengebracht. Wie wurde daraus ein tanzendes Kollektiv?

Die Tänzer begegneten sich mit großem Respekt – es gab keine Rivalitäten. Sie haben sich sehr schnell wie eine Gruppe verhalten. Es gibt heute eine große Sehnsucht danach, zu einer Gruppe zu gehören. Dieses Verlangen ist stärker als das Streben nach Selbstverwirklichung und persönlicher Freiheit.

Was ist dabei Ihre Rolle als Choreograf? Lenken Sie den Gruppenprozess?

Ich nehme mir viel Zeit, um die Tänzer zu beobachten, wie sie allein oder mit anderen etwas ausprobieren. Sie haben den Wunsch sich auszudrücken. Man muss nur vertrauen. Dann entsteht ein wundervolles Kaleidoskop von Bewegungen.

Sie haben sich auch einmal als gute Hausfrau bezeichnet.

Das stimmt. Ich versuche als Erster im Studio zu sein, ich mache sauber, koche Kaffee für alle Beteiligten. Und meistens bin ich auch der Letzte, der geht.

Das Gespräch führte Sandra Luzina.

Der belgische Choreograf Alain Platel arbeitete als Heilpädagoge mit behinderten Kindern, ehe er sich dem Theater zuwandte. 1984 gründete er in Gent das Tanzkollektiv Les Ballets C. de la B. Seinen Durchbruch erzielte er 1988 mit „Iets op Bach“ . Auf dem Höhepunkt seines Ruhms zog er sich mehrere Jahre zurück, bis Gerard Mortier, damals Leiter der Ruhr Triennale, ihn für die bald international gefeierte Mozart-Produktion Wolf gewann.

Am 1. März (20 Uhr) zeigt die Staatsoper Berlin die deutsche Erstaufführung seines auf Monteverdis Marienvesper basierenden Stücks „Vespero“ im Rahmen der Cadenza-Barocktage. Uraufführung war am 16.2. in Paris.

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