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Kultur: Sehnsucht nach dem Mehr

Seine Welt war der unterste Underground: Carl Andersen drehte krude Low-Budget-Meisterwerke wie „Entfesselte Vampirellas in Ketten“. Nun ist der Regisseur und Schauspieler mit 54 Jahren in Berlin gestorben. Ein Nachruf

Carl Andersen gehörte zu den unvergesslichen dünnen Männern des deutschen Films. Er war so dünn wie Karl Valentin, oder um ein jüngeres Beispiel zu nennen: wie Erwin Leder, der unter Schock stehende Heizer mit den weit aufgerissenen Augen aus Wolfgang Petersens Kriegsfilm „Das Boot“. Wie es der Zufall wollte, waren Leder und Andersen künstlerische Weggefärten, zunächst in Wien, wo Andersen am 15. Mai 1958 geboren wurde, und später auch in Berlin. Lothar Lambert porträtierte die beiden Filmfreaks in seiner Dokumentation „Küss die Kamera – Wiener Wahn hoch zwei“ (2006).

Der schon frühzeitig filmbesessene Carl Andersen schrieb Kritiken und engagierte sich in der Wiener Programmkinoszene, wobei er ganz gezielt kleine, schräge Außenseiterproduktionen förderte. Der Film, der ihn mit Leder 1983 zusammenbrachte, hieß „Angst“. Andersen übernahm die Promotion, außerdem organisierte er das erste schwul-lesbische Filmfestival in Österreich. Dabei liebte er selbst die Frauen, ihnen widmete er Filme mit so vielsagenden Titeln wie „Vampyros Sexus – I Was a Teenage Jabbadoing“ (1988), „Mondo Weirdo – Jungfrau am Abgrund“ (1990), „Entfesselte Vampirellas in Ketten“ (1996), „Female Summer“ (2006) oder „The Ratman and His Muses“ (2011). Eine Exfreundin, die noch den Schlüssel zu seiner Wohnung in Berlin besaß, hat ihn jetzt tot aufgefunden. Der Regisseur war drei Tage zuvor über seinem Computer zusammengebrochen. Bisher deutet alles auf Medikamentenmissbrauch. Andersen lebte ungesund, war Kettenraucher, bei ihm wurden Herztabletten entdeckt. Sein halb verdursteter Hund konnte gerettet werden.

Wenn Andersen keine Filme drehte, verkaufte und verlieh er welche: Im Negativeland in der Danziger Straße, der ältesten Programmvideothek Berlins, stand er hinter dem Tresen. Er machte es seinen Kunden nicht leicht, oft führte er Streitgespräche mit ihnen und kritisierte ihren Filmgeschmack. Sein eigener Geschmack ging in Richtung zitatenreicher Horror-Zombie-Trash. Aber er versuchte sich auch an einem seriösen Beziehungsfilm im Stil von Ingmar Bergman: „Die Sehnsucht nach dem Mehr“ (2000) ist statisch und voller Großaufnahmen. Die drei Darsteller des Kammerspiels quälen sich mit ihren langen Dialogen, und Andersen leistet ihnen Gesellschaft. Er konnte genauso wenig spielen wie sie und zeigte das auch ganz bewusst.

Einem etwas breiteren Publikum ist er am ehesten noch durch Auftritte in Lothar-Lambert-Filmen wie „In Hassliebe Lola“ (1995), „Blond bis aufs Blut“ (1997) oder „Aus dem Tagebuch eines Sex-Moppels“ (2004) bekannt, die liefen immerhin während der Berlinale im Panorama oder zu später Stunde in einem der Dritten Programme. Auf einen höheren Bekanntheitsgrad hat Carl Andersen selbst keinen Wert gelegt. Seine Welt war der unterste Underground, ihm ist er bis zuletzt treu geblieben. Frank Noack

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