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Kultur: Sein Name sei Dschugaschwili

Sein Name sei Dschugaschwili, sagt er.- Dschugaschwili, und ich lasse mir den Namen, zugegeben, auf der Zunge zergehen, wie lebt es sich mit diesem Namen im Rußland von heute?

Sein Name sei Dschugaschwili, sagt er.- Dschugaschwili, und ich lasse mir den Namen, zugegeben, auf der Zunge zergehen, wie lebt es sich mit diesem Namen im Rußland von heute? - Schlecht, sagt er.- Er könne seinen Namen doch ändern, sage ich.- Warum? fragt er und ist obenauf.

Aber seine Hände, die schlanken Finger haben sich verkrampft.Sie pressen das Blut aus den Gliedern, statt rosa sind sie weiß und blau.Sein Bruder, erzählt er, sei Maler.Er selbst, Filmregisseur, will die Lebensgeschichte seines Großvaters Jakow recherchieren und vielleicht einen Film über jenen Mann machen, der einen Selbstmordversuch unternahm, als sein Vater, der Diktator, ihm untersagte, die Frau zu heiraten, die er liebte.Als Jakow in deutsche Kriegsgefangenschaft geriet, soll sich der Vater geweigert haben, ihn gegen einen deutschen General auszutauschen.Er selbst wurde von Lager zu Lager verlegt, wo es auch Doppelgänger gegeben haben soll, um einer sowjetischen Befreiungsaktion vorzubeugen.Wer also will wissen, ob der Mann, der in Sachsenhausen erschossen wurde, der echte Jakow gewesen ist? Vielleicht recherchiert Wissarion Dschugaschwili die Geschichte eines unbekannten Soldaten?

Der Konzertsaal des Hotels Schemtschuschina ist gut gefüllt, als der kurze Film in Schwarzweiß gezeigt wird.Er heißt "Kamen" (Stein) und ist vor wenigen Wochen in Oberhausen, bei den Kurzfilmtagen, ausgezeichnet worden.Niemand dort, wird glaubwürdig versichert, soll gewußt haben, wer der bisher völlig unbekannte Filmemacher W.Dschugaschwili in Wahrheit ist.

Das Gemäuer, die Ruine einer Kirche, ein hügeliges Gelände vor der Stadt.Kinder laufen darüber und lassen einen Drachen steigen.Weit verstreut auf dem Feld einzelne Grabplatten.Auf einer stehen Speisen und Getränke, drei Männer essen und trinken, der übliche Besuch beim Toten, die übliche Zeremonie.Ganz in der Nähe ein anderer Mann, jünger als die drei.Mit einem flachen Stein und mit den Händen versucht er, eine Grabplatte freizulegen.Mit schier übermenschlichen Kräften scheint er sie hochstemmen, das Grab öffnen zu wollen.Dann hat er den schweren Stein ringsum aus der Erde befreit, stellt eine brennende Kerze in den kleinen Graben neben dem Grabstein.Und geht fort, hinunter zur Stadt, während die drei Männer neben die Grabplatte mit der Kerze getreten sind.

Die Toten lassen ihn nicht los, er läßt die Toten nicht los.Er will ihnen nahe sein, und es ist abzusehen, daß er beim Großvater nicht stehenbleiben wird.Was soll daraus werden bei ihm, dem Sohn des Militärhistorikers, der unter Gorbatschow in den Ruhestand versetzt wurde und jetzt, in Opposition zum grusinischen Präsidenten Schewardnadse, einem Komitee nicht gerade fernsteht, das an der Rehabilitation eines der größten Massenmörder der Menschheitsgeschichte arbeitet? In Georgien, seiner zweiten Heimat neben Rußland, kann dieser Filmemacher mit Unterstützung nicht rechnen.Sippenhaft gilt hier - noch bis ins vierte Glied.

Die Nachkommenschaft des Diktators: Wissenschaftler, Intellektuelle, Künstler.Man dürfe nicht vergessen, sagt der Urenkel, daß der Urgroßvater in seiner Jugend Gedichte geschrieben habe, unter Pseudonym.Nicht irgendwelche.Einige davon fänden sich noch heute, klassischer Bestand der grusinischen Literatur, in den Schullesebüchern des Landes.Hitler, denke ich, hat als Maler begonnen, beginnen wollen.Was wäre geschehen, wenn ihn die Akademie nicht abgelehnt hätte? Und: Welch dunkler und schrecklicher Zusammenhang besteht zwischen Künstlertum, gescheitertem meinetwegen, und Massenmord? Zwischen dem Ästhetischen und dem Terrorismus? Goebbels hielt sich für einen mißachteten Dramatiker - und war der hervorragendste Filmdramaturg des Dritten Reichs.

Die Sonne steht im Zenit über dem Schwarzen Meer, der Badestrand von Sotschi, nur Steine, kein Sand, ist lebhaft besucht.Wenige Kilometer von hier entfernt, über See vielleicht vier oder fünf, gibt es Sand: am Fuß eines französisch dressierten Parks, in dessen Mitte die "Datscha" des Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili steht, der sich Stalin nannte.Es is ein Palazzo, dem jede mediterrane Freundlichkeit fehlt, eine Burg mit marmorkalt gekachelten Hallen und Sälen.Warum sonst befällt dich ein Frösteln mitten in dieser sonnendurchstrahlten Pracht?

PETER W.JANSEN

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