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Abflug. Nadja Mchantaf in der Rolle der Gisela in der Semperoper.

© dpa

Semperoper: Fernweh ist Heimweh

Glückssucher: Die Semperoper spielt die Dresdner Fassung von Hans Werner Henzes "Gisela".

Der alte Mann, zerbrechlich, lebhaft, stolz, residiert in der Mittelloge, während die Bühne der Jugend gehört. Hans Werner Henze ist nach Dresden gekommen, um der „revidierten Fassung“ seines Musiktheaters „Gisela! oder Die merk- und denkwürdigen Wege des Glücks“ beizuwohnen. Was sich hinter der Formulierung „in Anwesenheit des Komponisten“ verbirgt, sei viel mehr gewesen, wird den Journalisten versichert. Nämlich seine Beteiligung mit Änderungen und Ideen über die Generalprobe hinaus. „Die Zeit rennt“, berichtet Dirigent Erik Nielsen von der Arbeit, „es kommen immer noch neue Noten.“ Henze überrascht alle.

Wenige Wochen nach der Uraufführung des gemeinsam mit der Kulturhauptstadt Ruhr 2010 in Auftrag gegebenen Werkes wird die „Sächsische Erstaufführung“ ein künstlerisches Fest. Henze im Jubel. Denn die Semperoper, als deren Intendantin nun Ulrike Hessler amtiert, hat einen Schritt nach vorn gewiesen, indem sie dem 84-jährigen Komponisten ein Inszenierungsteam zur Seite stellt, dessen Sterne gerade aufgegangen sind. Fantasiereich und professionell stehen zwei junge Frauen für Regie und Bühnenbild ein: Elisabeth Stöppler und Rebecca Ringst.

Gisela aus Oberhausen kommt nach Neapel mit ihrem Freund Hanspeter, der die Absicht hat, „das Fräulein Gisela“ zu heiraten. Für das Libretto zeichnen Christian Lehnert, sächsischer Pfarrer und Lyriker mit feinen Sonetten, neben dem Theatermenschen und Henze-Assistenten Michael Kerstan. Obwohl das Textbuch ein bisschen hölzern fünfziger Jahre nahelegt, beharrt Henze selbst heute darauf: „Junge Mädchen heißen Gisela.“ Nur nichts Modisches. Mit Nachnamen sollte Gisela ursprünglich Geldmacher heißen (so auch noch in der unrevidierten Partitur). Ein typischer Name des Ruhrgebiets. Aber da sich Henze auf diesen Mädchennamen seiner Mutter aus Witten zu oft angesprochen fühlte, heißt die Titelfigur Gisela Geldmeier. Es sollte kein Mutterporträt sein. Und spricht doch dafür, wie viel Leben Henzes in seinem Spätwerk für die Jugend steckt.

Dass diese Gisela sich in Neapel prompt in einen Italiener verliebt, in Gennaro, der den Pulcinella spielt, ist mehr als ein Urlaubsflirt. Mit ihrem Latin Lover flieht Gisela nach Oberhausen zurück, wo es zwei Kinos, drei Pizzerien, fünf Eisdielen gibt. Vom Bunten ins Graue. Henzes Musik wohnt in Deutschland, während sie in Italien, wo er lebt und Heimat gefunden hat, kaum aufgeführt wird. Die Wege, die er mit Ingeborg Bachmann (ein Vorname aus der Zeit Giselas) gegangen ist, klingen in der „Dresdner Fassung“ auch mit einer italienischen Canzone für den Tenor Giorgio Berrugi an, den Pulcinella, der die Zuschauer in italienischer Sprache begrüßt. Die beiden anderen Akteure des Dreiecks sind Nadja Mchantaf (Gisela) und Markus Butter (Hanspeter), mit jugendlichem Engagement wie alle Sänger und Tänzer, sicher getragen von der Sächsischen Staatskapelle unter Erik Nielsen mit dem fulminanten Staatsopernchor.

Niemand erwartet von einer neuen Henze-Partitur Avantgarde-Kratzer. Die Musik wirkt atmosphärisch dicht, Farbgespinste, auch wenn sie bei reichem Instrumentalapparat mit viel Schlagwerk, Wagner-Tuba, Heckelphon, Klavier geringstimmig besetzt ist: ein schweifendes Bratschensolo folgt Giselas Vorstellung von „echter Liebe“ und Geborgenheit. Mit anverwandeltem Bach ist es eine Musik, die klingt, ohne sich anzubiedern.

Henze ist immer noch der Komponist mit den Märchenaugen, die Inszenierung holt ihn in ihre Gegenwart. Stöppler geht von der Frage aus, ob Fernweh nicht stets auch Heimweh sei. Man befindet sich auf einem Flughafen, Check-in bei Alitalia, Rollkoffer-Touristen, Stewardessen, Reinigungskräfte, Duty Free, Security, Schalensessel, hinter hohem Fenster der Blick aufs Flugfeld, später Raum für Videos. Alles sehr dekorativ, adrett und doch nicht geheuer. Das Bild meint: existentielle Einsamkeit überall. Verzauberter Airport, bevor mit Masken und Commedia-Auftritten alles immer bunter wird (Kostüme: Frank Lichtenberg, Licht: Fabio Antoci). Es ist ein magischer Realismus auf der Bühne, vom Handy-Diktat bis zum Theatertod souverän in Bewegung gesetzt. Das Liebespärchen scheint sich in heimatloser Lust zu verrennen. Die Suche nach dem Glück geht weiter.

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