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Sprachtüftler. Senthuran Varatharajah, 32, kam in den 80er Jahren mit seiner Familie aus Sri Lanka nach Deutschland.

© Thilo Rückeis

Senthuran Varatharajahs Debütroman: Jeder Buchstabe hat seinen Preis

Am Rand der Sprache: Senthuran Varatharajah erzählt in seinem mit Spannung erwartetem Debüt „Vor der Zunahme der Zeichen“ von Flucht und Ankommen. In dieser lauten Debatte um Migration hat er einen leisen und wichtigen Roman geschrieben.

Wenn man die Wohnung von Senthuran Varatharajah in Schöneberg betritt, ist man umgeben von Bildern und Büchern. Bis unter die Decke stapeln sich die Bände von abendländischer Literatur und Philosophie. An der Wand stehen Sneakers in allen Farben, von schwarz bis hellrosa. In der Mitte, direkt am Fenster, ein alter Holzschreibtisch, darauf steht eine Spongebob-Tasse und ein Laptop. Dahinter, auf der Heizung, liegen noch mehr Bücher. Bergeweise.

Varatharajah lächelt, wirkt ausgeruht, obwohl sich bei ihm die Journalisten die Klinke in die Hand geben. Heute zwei Zeitungen, gestern das Fernsehen. Auf der Leipziger Buchmesse war der Doktorand der Philosophie auch eingeladen, um über Asylpolitik und Sprache zu diskutieren. Seit seinem ersten, kurzen Auftritt in der Literaturwelt hat sich viel getan.

Klagenfurt, 2014, da sitzt er beim Bachmann-Wettbewerb plötzlich auf der Bühne, obwohl er nichts veröffentlicht und kaum jemand vorher etwas von ihm gehört hat. Die Jurorin Meike Feßmann hat ihn eingeladen, sie verheißt in ihrer Laudatio: Varatharajah werde die deutschsprachige Literatur auf einmalige Weise prägen. Er habe zu seiner Freundin immer gesagt, dass er nicht verstehen könne, wie Menschen sich das freiwillig antun können, staunt er noch heute. „Nach Klagenfurt reisen, sich öffentlich dieser Demütigung aussetzen.“ Dann sitzt er selbst da. Der Text, den er liest, ist ein  Facebook-Gespräch zwischen zwei Geflüchteten, eine moderne Replik auf den Briefroman. Nachdenkliche Sätze stehen darin, schöne Sätze, wie: „die gegenstände, die wir berühren, berühren uns an stellen zurück, an denen wir taub für sie sind.“

Aus dem Text wird ein Roman

Er hat die Hände auf dem Tisch zusammen gefaltet, sein Gesicht verharrt in stummer Anspannung, während er das Urteil der Juroren erwartet. Überschwängliches Lob und Kritik wechseln sich ab. Als feinfühlige, sprachlich meisterhafte Zeichentheorie des Asyls wird sein Text hervorgehoben, als artifizielles, aufgeblasenes Gehabe niedergemacht. Einer der Juroren sagt: Es höre sich an, als habe er Deutsch auf einer einsamen Insel von Hegel gelernt. Trotzdem gilt der literarische Nobody von da an als Geheimfavorit. Am Ende gewinnt er den 3-Sat Preis.

Aus den zwanzig Seiten, die er damals vorgelesen hat, hat Varatharajah einen 250 Seiten starken Roman mit dem Titel „Vor der Zunahme der Zeichen“ geschrieben, der jetzt im Fischer Verlag erscheint. Es ist ein leises Werk, das Geduld erfordert, Wachsamkeit, sperrig auf eine Weise, dafür umso belohnender. Die beiden Protagonisten, der Tamile Senthil Vasuthevan und die Kosovarin Valmira Surroi, fangen zufällig an einander auf Facebook zu schreiben. Anfangs fragen sie sich noch, woher sie sich kennen könnten. Bald erzählen sie einfach.

Sprechen und Schreiben unter den Bedingungen des Asyls

Senthil schreibt Valmira davon, wie er als kleiner Junge zuhause sitzt, Fernsehen schaut und zum ersten Mal die deutschen Wörter „tamilische Flüchtlinge“ und „Sri Lanka“ hört. Er sieht Bilder des Völkermordes, in dem die singalesische Armee Tamilen massakriert. Aufgequollene, tote Körper, die man in den Fluss geworfen hat.

Valmira schreibt ihm, wie sie einen Bericht über eine Flüchtlingsfamilie in der „Tagesschau“ sieht. Die Reporterin sagt, sie hätten keine Papiere. Valmira macht ihren Onkel darauf aufmerksam, dass es in Deutschland doch genügend Papier gibt. Sie hatte es an ihrem ersten Schultag gesehen: liniertes, kariertes, auch leeres, mit großem, kleinen Rand. Sie will den Flüchtlingen ihre Hefte geben. „Ich wusste nicht, dass Papier und Papiere nicht dasselbe bedeuteten“, erzählt sie. Und dann: „Jeder Buchstabe hat seinen Preis.“

Anekdoten wie diese verdichten sich, das Sprechen und Schreiben unter den Bedingungen des Asyls, der Erfahrung von Tod und Flucht, wird hinterfragt. Dieser Fokus unterscheidet den Roman auch existentiell von anderen gegenwärtigen Romanen zum Thema Flucht, wie „Ohrfeige“ dem aktuellen Buch von Abbas Khider oder „Nachts ist es leise in Teheran“, dem Debüt von Shida Bazyar.

Ein Prosaroman wie ein Gedicht

„Ich wollte einen Roman schreiben“, erzählt Varatharajah, „der sich zwar wie Prosa geriert, aber mit den Mitteln der Lyrik arbeitet. Ich wollte nach den Grundlagen fragen: unserem Verhältnis zur Sprache als Medium der Erkenntnis.“ Im Roman nennt er das, an den Rand der Sprache gehen, was auch wörtlich gemeint ist. „Die Asylheime stehen ja meistens am Rande der Orte, im weiteren Sinne der Gesellschaft.“

Der Roman und das Leben des 32-jährigen Autors weisen viele Parallelen auf. Auch Varatharajahs Familie ist in den 80er Jahren aus Sri Lanka nach Deutschland geflohen. Sie wurden in Bayern in verschiedenen Asylheimen untergebracht und sind ebenfalls Zeugen Jehovas.

Die Bibel und das Fernsehen prägt Varatharajahs Spracherwerb. Die Mutter hält die Kinder an, sie sollen „Glücksrad“ schauen, um Deutsch zu lernen. Weil es keine tamilische Community gibt, verlernt Varatharajah die Sprache seiner Eltern jedoch. Er denkt lange, Tamil sei eine Geheimsprache, die sie erfunden hätten. Die Sprache hat viele Überschneidungspunkte mit dem Englischen. „Als ich in die fünfte Klasse kam, merkte ich erst, dass Worte wie ,car‘ oder ,table‘ gar nicht aus dem Tamilischen stammten“, erzählt Varatharajah. Er kann heute nur noch Bruchstücke, mit seinen Eltern spricht er in einem Kauderwelsch aus Englisch, Deutsch und Tamil. Auch dieser Sprachverlust ist ein wichtiges Thema im Roman. Ein Onkel sagt zu Senthils Vater, seine Kinder seien das Ende, die Rache an ihrer Sprache.

Ein leiser Roman in einer lauten Debatte

Die Lebenswelten der Generationen entfernen sich – im Roman, wie im Leben. Die Kinder lernen die Sprache, indem sie fernsehen, die Eltern verharren in der Vergangenheit, in dem sie in die Ferne sehen, wie Varatharajah es ausdrückt. „Am Anfang hieß es immer, wenn ihr fertig mit der Schule seid, gehen wir zurück.“ Später: „Wenn ihr fertig mit dem Studium seid, gehen wir zurück.“ Jetzt: „Wenn ihr geheiratet habt, gehen wir zurück.“ Auch das beschreibt er im Roman: „aber sie blieben, sie bleiben und sie werden geblieben sein, bis zum ende. ich glaube, sie wussten es von anfang an.“

Was seinen Roman so stark macht, ist, dass er auf kühne wie auch reflektierte Weise mit seinem sehr persönlichen Sprachzugang spielt. Mit den unbemerkten Unterschieden, den unbewussten Leerstellen, die Wörter assoziativ und imaginativ besetzen, zum Teil auch zersetzen. Man kommt beim Lesen nicht umhin, über den populistischen Ton nachzudenken, den das Sprechen und Diskutieren über Migration in der Öffentlichkeit mittlerweile bestimmt. In dem Worte wie Flüchtlingswelle, Flüchtlingskatastrophe, oder wie von Schäuble, Flüchtlingslawine allzu leichtfertig gebraucht werden. In denen Menschen Geflüchtete mit der Parole „Wir sind das Volk!“ anschreien. Die Familien von Geflüchteten werden mit diesem Satz, wohl kaum einmal das verbinden, wofür er für uns lange stand. Das Einreißen von Mauern, ein Symbol der Einigung. Für sie ist es ein Ausdruck von Hass und Gewalt.

Senthuran Varatharajah: Vor der Zunahme der Zeichen. Roman. S. Fischer, 250 S., 19,99 €. Buchpremiere mit dem Autor ist am heutigen Dienstag um 20 Uhr in der Akademie der Künste am Pariser Platz.

Giacomo Maihofer

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