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Sanfte Melancholie. Das Mauergrab Radicke/von Oppen auf dem Luisenstädtischen Friedhof ist im Stil der Neorenaissance gestaltet.

© Mike Wolff

Serie Berliner Mauern: Logenplatz im Jenseits

Berliner Mauern (4) In ihrem Schatten ruhen oft Wohlhabende: Friedhofsmauern trennen das Reich der Lebenden von dem der Toten.

Ein massives Bauwerk, das einhegen und schützen, aber auch trennen und begrenzen kann. Mura, Murus – das Wort ist althochdeutschen und lateinischen Ursprungs. Den Steinbau haben die Germanen von den Römern übernommen. Keine Zivilisation ohne Mauern. Sie sind so alt wie China oder Babylon. Und was sie bedeuten können, hat im 20. Jahrhundert keine Stadt schmerzhafter erfahren als Berlin. Dreißig Jahre nach dem Mauerfall existieren hier immer noch Mauern. Unsere Sommerserie blickt dahinter.

An der Kreuzberger Blücherstraße ist die Friedhofsmauer durchlöchert, wenige Meter von den Gräbern der Mendelssohns und von E.T.A Hoffmann entfernt. Die Löcher haben einen Grund: Der böhmische Gottesacker vor dem Halleschen Tor, auf dem einst die protestantischen Auswanderer zu Grabe getragen wurden, endete weiter nördlich. Als die Straßenführung geändert und die Amerika-Gedenkbibliothek gebaut wurde, musste ein Stück Friedhof weichen. Die hässliche Mauer aus Beton-Formsteinen ist eine schöne Geste: eine Erinnerung daran, dass der vierspurige Damm einmal ein Grabfeld war. Die Grenze ist offen, die Totengeister können hindurchschlüpfen. Auch die Scheintoten übrigens, für deren Rettung 1839 die Kapelle auf dem Nachbarfriedhof erbaut wurde. Kein Scherz, man hatte sie explizit nicht nur als Leichenhaus eingeweiht.

Berlin zählt 220 innerstädtische Friedhöfe

Friedhof, Einfrieden, die Mauer steckt schon im Wort. Früher lag das umfriedete Areal im Schatten der Kirche. Als den Kirchgängern der Verwesungsgestank zu sehr in die Nase stieg, verlegte man die Toten vor die Tore der Stadt. Aus der Nase, aus dem Sinn. Aber je mehr die Städte wuchsen, desto mehr Bestattungsplätze wurden eingemeindet. 220 innerstädtische Friedhöfe zählt Berlin heute, angeblich Weltrekord. 181 davon sind zugänglich. Und fast immer sind sie von einer Mauer umschlossen, sei sie nun aus rotem oder gelbem Backstein, mit Pilastern geschmückt oder als flacher Wall mit Ornamentgittern und Eisenstangen bewehrt.

So ist es auch bei den vier benachbarten, von Prominenten wie Gustav Stresemann, Adolph Menzel, Charlotte von Kalb und Friedrich Schleiermacher bewohnten Friedhöfen an der Bergmannstraße neben dem Südstern. Im frühen 19. Jahrhundert verkaufte die Großbauern-Erbin Marie Bergemann ihre Weinberge an die Luisenstädtische, die Jerusalem-, die Friedrichswerdersche und die Dreifaltigkeits-Gemeinde: Schon der Name der Straße enthält Friedhofsgeschichte.

Unter dem Asphalt vor der Steinmetzwerkstatt sollen übrigens Grabsteine liegen. Eigentlich bombardierten die Alliierten die Gegend hier nicht, wegen der Nähe zum strategisch wichtigen Flughafen Tempelhof. Aber eine Bombe fiel doch, riss einen Krater, und der Großvater des heutigen Steinmetzes füllte das Loch mit Grabplatten auf. Das erzählt man sich jedenfalls in der Straße. Bis heute finden sich auf den inneren Friedhofsmauern Schusslöcher von den letzten Rückzugsgefechten der Wehrmacht. Wie auf manchem Grabmal auch.

Schon im 19. Jahrhundert wählten die besonders Wohlhabenden ihre letzte Ruhestätte jedenfalls an der Mauer. Wegen der Rückendeckung? Der vornehmen Zurückhaltung? Mauergräber sind Logenplätze. Vielleicht sind sie ja auch deshalb begehrt, weil sie leichter zu finden sind als Parzellen im Mittelfeld.

Hier ruht der Luxuswäschefabrikant Gustav Eltschig

Ob efeubewachsene Ungetüme oder zart verblasste Farben: Die Zeit hat auch an den Mauern genagt. Einst war es strahlend weiß, jetzt zeigt es sich schmuddelgrau, das Marmor-Wandgrab des Luxuswäschefabrikanten Gustav Eltschig im Süden des Luisenstädtischen Friedhofs an der Lilienthalstraße. Ein Trauerengel wird von sphinxhaften Hähnen und Vanitassymbolen wie Mohnblütenstempeln und Sanduhr flankiert. Halb neoromanisch, halb jugendstilig gemahnen sie an ebenjene Vergänglichkeit, der die Grabstätte selber anheim gefallen ist. Eltschigs Firma wurde nach dem Krieg übrigens von Heinrich Hoffmann übernommen, wie die Kunsthistorikerin Uta Lehnert mir erzählt. Dessen Schwiegertochter Erika Hoffmann ist ebenjene, die die grandiose Hoffmannsche Kunstsammlung jetzt von Berlin nach Dresden gibt ...

Ein paar Meter weiter findet sich ein besonders verwunschenes Mauergrab, ebenfalls efeuumwuchert. Außen ein trutziges Mausoleum, im Inneren das restschimmernde Wandmosaik einer Paradieslandschaft. Ein lieblicher Hain auf güldenem Grund, ein Lebensbrunnen, an dem die Vögel sich laben, darüber die griechische Inschrift „Wen die Götter lieben, der stirbt jung“. Rechts und links träumen zwei Allegorien vor sich hin: Tag und Traum, Leben und Tod, Romeo und Julia? Der Weltschmerz weht einen an, denn das Grabmal huldigt einer tragischen Liebesgeschichte. Mit nur 20 Jahren starb die Fabrikantentochter Liza Biedermann, wenig später erschoss sich ihr ebenso junger Geliebter.

Wenn er dreimal kräht. Ein sphinxhafter Hahn am Wandgrab des Wäschefabrianten Eltschig.
Wenn er dreimal kräht. Ein sphinxhafter Hahn am Wandgrab des Wäschefabrianten Eltschig.

© Mike Wolff

Auf der Straßenseite strotzt die Friedhofsmauer nur so vor Energie. Genau hier, wo es Richtung Tempelhofer Feld geht, ist sie mit riesigen Graffitis versehen, über denen sich die Giebel der Gräber abzeichnen. Der Friedhof als Silhouette, ein Negativabdruck des Totenreichs. Einer hat seine Liebeserklärung in Kreuzform darunter gesprüht. Und gleich ums Eck findet sich der Grenzwall von eng aneinandergedrängten Nummernschilder-Containern ersetzt. Die bunten Buden vor der Kfz-Zulassungsstelle in der Jüterboger Straße bilden eine der skurrilsten Friedhofsmauern Berlins.

Gewöhnlich sorgen sie ja für strikt getrennte Welten. Sauber verputzt, mit Graffitis übersät, so oder so garantieren sie die Totenruhe. Oder ist es umgekehrt, und wir Lebenden schützen uns vor dem Anblick der Tabuzone Tod? Heute, wo die Friedhöfe mitten im Kiez liegen, führt das jedenfalls zu lustigen Nachbarschaften. Hier die Wäscheleine mit flatternden Hertha-Shirts, daneben das Erbbegräbnis mit Freimaurer-Emblem. Oder die Räder im Hinterhof, vom trauernden Engel bewacht.

Wand an Wand mit dem Klassenfeind

Berliner Friedhöfe grenzen an Laubenkolonien, Spielplätze und Supermärkte, schreibt die Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Stumpf in ihrer Bachelorarbeit über Friedhofsmauern. So manche Mauer wird schlicht von Häusern gebildet. Und vor dem Bau der Berliner Mauer 1961 diente eine Friedhofsmauer in Pankow sogar als Grenze zwischen Ost- und West-Berlin. Wand an Wand mit dem Klassenfeind ...

An den Anfang ihrer Arbeit hat Stumpf ein Zitat von Epikur gestellt: „Allem anderen gegenüber ist es möglich, sich Sicherheit zu verschaffen, aber im Hinblick auf den Tod bewohnen alle Menschen eine Stadt ohne Mauern.“ Eigentlich sind Friedhofsmauern überflüssig. Mark Twain nannte ihre Errichtung ein treffliches Beispiel für unsinnige Ausgaben: „Die drinnen sind, können sowieso nicht hinaus, und die, die draußen sind, wollen nicht hinein.“ Leider gibt es Vandalismus, Metalldiebe, Grabschändungen. Die Mauer hat etwas mit Pietät zu tun.

Zeichen setzen. Der Luisenstädtische Friedhof von der Lilienthalstraße aus.
Zeichen setzen. Der Luisenstädtische Friedhof von der Lilienthalstraße aus.

© Mike Wolff

Pietät hat ihren Preis. Viele Totenacker waren zunächst von Hecken und Lattenzäunen umgeben. Aber die Berliner, heißt es, hätten das Holz in kalten Wintern lieber verfeuert. Um wehrhaftere Befestigungen zu finanzieren, wurden die Grabplätze an der Mauer besonders teuer verkauft. Was ebenfalls erklären würde, warum hier eher die Reichen bestattet sind. Allerdings finden sich keine rechten Belege für die Geschichte. Fakt ist, dass an den Mauern die besonders prunkvollen Erbbegräbnisse platziert sind. Pompöser schwarzer Marmor, gestockte Sandsteinquader, klassizistische Säulenarchitektur, Architrave, Kuppeln, eiserne Lorbeerkränze und eherne Lettern.

Nicht alle Friedhofsmauern sind Außenmauern. Weil an der Bergmannstraße, am Halleschen Tor oder auch am Dorotheenstädtischen Friedhof mit den Promi-Gräbern von Brecht bis Otto Sander mehrere Totenäcker zusammengelegt wurden, sind sie von Mauern durchzogen – und mit Durchlässen verbunden. So manches zwei, drei Meter hohe Erbbegräbnis dient dabei seinerseits als Abgrenzung.

Auf dem Alten St.Matthäus-Kirchhof mussten Gräber Hitlers "Germania" weichen

Die Mauer und das Grab, sie werden eins. Die Natur tut ein Übriges, lässt Schriftzüge verwittern, breitet Rankenwerk aus, sprengt selbst Marmor auf, mit Wurzelwerk und Geäst. Die schönsten Mauergräber sind die leicht morbiden, urbanes Kulturerbe, halb schon renaturiert. Bröselndes Gestein, gnädige Flora, ihre Melancholie stimmt einen sanft.

Und dann ist da noch die Geschichte von den Gräbern, die ihre Mauer verloren haben. Sie standen auf dem Alten St. Matthäus-Kirchhof zwischen Großgörschen- und Monumenten(!)straße und sollten Hitlers Welthauptstadt Germania weichen. 120 Erbbegräbnisse wurden 1938 und 1939 umgebettet, auf Züge geladen und nach Stahnsdorf geschafft. Dort kann man sie noch heute besuchen, imposante, freistehende Grabmale unter hohen Bäumen, mit nichts im Rücken. Auch das Mausoleum von Gustav Langenscheidt, dem Gründer des berühmten Lexikon-Verlags, findet sich hier auf dem Südwest-Kirchhof unweit der Alten Potsdamer Straße. Der Pionier fürs Übersetzen, er musste selbst übersetzen, vom Zentrum an die Peripherie. Und ins Jenseits sowieso.

Aus Germania wurde nichts, aber die Gräber ohne Mauer sind immer noch da. Auf dem Matthäus-Kirchhof erinnern Wandzeichnungen daran, was hier einst war. Die Friedhofsmauer wird zum Schattenriss der Geschichte.

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