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Schauspiel des fernen Nordens. Die Weiße Nacht ist im russischen Sankt Petersburg ein Jahreshighlight, Aufnahme von 1999.

© Anatoly Maltsev

Serie: Farben des Sommers (6): Weiße Nächte

Traumhaft, aber kein Traum: Unser Autor erlebt in Sankt Petersburg die Magie einer Weißen Nacht.

Von Oliver Bilger

Diese Nacht wird lang, aber was macht das schon? Im Zentrum Sankt Petersburgs stehen jene, die bis jetzt durchgehalten haben, und andere, die erst noch durchstarten wollen. Im Rücken der Winterpalast, die berühmte Eremitage, im Blick die Newa. Es ist nach eins. Späte Nacht, früher Morgen – das spielt hier keine große Rolle. Zahlen auf der Uhr, nichts weiter.

Früher am Abend, gegen zehn, als man längst den Sonnenuntergang erwartet hatte, war es einfach hell geblieben. Der innere Takt tickt irritiert. Eine Stunde ist rum, es ist fast elf. Während es andernorts dunkel wird, dämmert es hier fortwährend, als habe jemand am Dimmer gedreht, den Lichtschalter aber nicht gedrückt.

Es sind Weiße Nächte. Nächte, in denen sich die Sonne nur kurz verabschiedet, um ganz bald schon wieder aufzutauchen. Ein Schauspiel, das nur im fernen Norden zu bewundern ist. Zum Beispiel in Sankt Petersburg. Zwischen Sonnenuntergang und Dämmerung liegen zauberhafte Stunden. Ende Juni, wenn die Tage am kürzesten sind, sind die Nächte am schönsten.

Eine Stadt tanzt in den Sommer

Natürlich sind sie nicht taghell, nicht scheinend weiß. Sie sind mal rot, mal violett, hüllen die Stadt in zartes Nachtblau oder milchiges Weiß, wie ein Schleier, der sich über alles legt. Grau können sie ebenfalls sein, das Wetter in Sankt Petersburg ist wechselhaft.

Weiße Nächte sind die beste Beleuchtung für die traumhafte Kulisse, die Petersburg bietet mit seinen 2000 Palästen und Villen. Kuppeln, Türme, Säulen, Balkone, Ornament und Stuck überall, dazu viel Gold und Glanz. „Piter“, du schöne und stolze Stadt.

Die Weißen Nächte verleihen der Stadt mit ihren Kanälen, Brücken und Inseln etwas Magisches. Es ist die romantischste Zeit des Jahres. Und jeder will nach draußen: flanieren, feiern, leben. Es geht auf die Straßen und Plätze, in die Gärten und Terrassen. Die Stadt tanzt in den Sommer. Sie freut sich, dem langen Winter wieder einmal entkommen zu sein. Das lange Licht gibt Energie. Schwerelos, zeitlos.

Zeit spielt keine Rolle mehr

Dann öffnen sich die Brücken der Stadt, damit große Schiffe passieren können. Die Schlossbrücke macht den Anfang, gegen halb zwei. In einem Moment, in dem Zeit keine Rolle spielt, gibt das nächtliche Spektakel einen Moment der Orientierung. An die Brücke vor der Eremitage kommen sie alle: Touristen, Einheimische, Jung und Alt. An Land oder auf schaukelnden Ausflugsbooten. Sie jubeln und klatschen, wenn die Brücke sich an zwei Seiten aufrichtet und langsam auseinanderbricht.

Einen Moment wird der Pulsschlag der Stadt ruhiger, bevor die Menschen weitertreiben wie die Boote auf der Newa. Vielleicht noch tiefer hinein in diese Weiße Nacht. Bis zum „ungewissen, phantastischem Licht des Petersburger Morgens“, wie schon Dostojewski schrieb. Traumhaft, aber kein Traum. Die Nacht war kurz. Welch Glück.

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