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Die Augen bleiben frei: Flüchtlinge schützen sich vor dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales vor der Kälte.

© REUTERS/Fabrizio Bensch

Serie: Kultur und Flüchtlinge: Wir können sehen, aber sehen nicht

Fremde Heimat, fremde Welt: Die Integration der Flüchtlinge ist eine große Aufgabe. Zugleich muss jenen Menschen geholfen werden, die von der Kälte des Marktes und von Armut bedroht sind.

Ein halbes Jahrhundert ist es her, dass die ersten Gastarbeiter nach Deutschland kamen und das Gesicht des Landes sich veränderte. Welche Welten damals einander begegneten, das beschreibt Kleist-Preisträgerin Emine Sevgi Özdamar in ihrem sehr schönen Text „Berlin, Stadt der Vögel“ (2001). Sie war unter jenen, die in den Sechzigerjahren auswanderten und traf auf ein Berlin, das sie nicht als eine „lebende Stadt“ empfand, sondern als erstarrte Schwarz-Weiß-Fotografie – mit Lücken in den Häuserreihen, Einschusslöchern in den Wänden, toten Bahnschienen und vereinsamten alten Frauen in den Parks.

Die Ausländer erschienen Emine Sevgi Özdamar in diesem Raum wie bunte Vögel, die sich kurz auf die Berliner Bäume gesetzt hatten, um binnen Jahresfrist zu ihren Orten zurückzufliegen. „Die ausländischen Vögel auf den Bäumen erinnerten die Menschen unten, die noch in den Fotos wohnten, an die Armut, die sie kurz zuvor noch selbst erlebt hatten. Armut ist wie eine ansteckende Krankheit, keiner will daran krank werden.“ Und weil „sie nicht zurückkehrten, mischten sich die Vögel in das zum Foto erstarrte Leben der Berliner ein und weckten die Fotos auf. Manche Fotos bekamen Farbe, andere vergilbten aus Missverstehen, andere bekamen neuen Glanz.“

Fremdheit ist nie einseitig

Berlin ist seither, erst recht seit der Wiedervereinigung und dem Internationalisierungsschub der späten 2000er Jahre, eine andere Stadt geworden und Deutschland ein anderes Land, auch dank der Vögel, die in den Fotos Platz genommen haben. Doch beschreibt Emine Sevgi Özdamar nicht nur die Bereicherung, die eine Gesellschaft durch Hinzukommende erfährt, sie streicht auch die Ursache von Argwohn und Furcht heraus: Angst vor Armut und sozialem Abstieg. Man braucht in Berlin heute nur einmal mit der Ringbahn zu fahren und in die müden, gebeutelten Gesichter zu sehen, um zu wissen, wie es einem weiten Teil der Bevölkerung nach zehn Jahren Hartz IV, Armutsverschärfung und Globalisierungsschere geht.

Worauf es ankommt, ist also nicht nur, die bei uns Schutz suchenden Menschen aufzunehmen und sie so gut es geht zu integrieren, sondern auch, die große Zahl an Globalisierungsverlierern in der Mitte unserer Gesellschaft nicht den Zentrifugalkräften der Pauperisierung zu überantworten. Der Kälte des Markts ist ein neues Miteinander entgegenzusetzen, der Furcht vor dem Fremden das Wissen um die unteilbare Gleichheit der Menschen. Und der Einfalt den Reichtum, der in der Fülle liegt.

Die türkische Autorin Sema Kaygusuz schrieb: „Kommen zwei Personen zusammen, ist nicht einer ein Fremder, sondern beide sind sie Fremde, und die begegnen einander natürlicherweise mit ihren Kulturen. Der eine kocht eine Speise, wie er sie kennt, der andere singt ein ihm bekanntes Lied.“ Sema Kaygusuz hat diesen Satz ursprünglich auf das schwierige Verhältnis zwischen Türken und Kurden bezogen formuliert. Und doch beschreibt ihr Satz zugleich sehr genau, was Abwesenheit von Differenz meint: Die Welt sammelnd wahrzunehmen, nicht zählend. Wir alle sind gleichermaßen Fremde, die einander mit ihren jeweiligen Kulturen begegnen. „Seine eigene Zivilisation als einer fremden überlegen zu definieren“, schrieb Sema Kaygusuz weiter, „bedeutet, sich einem altbekannten Albtraum hinzugeben.“

In Ruanda, Syrien, Hoyerswerda - Kain schlägt immer wieder zu

Deshalb ist es wichtig, die Begegnung mit dem anderen bewusst zu fördern. Denn es ist nicht die Erfahrung von Gleichheit, die Toleranz und einen weiten Horizont schafft, sondern die von Andersartigkeit. Die Gäste des Berliner Künstlerprogramms leben es immer wieder vor: Die Welt kann nur mit Facettenaugen erfasst und begriffen werden. So wie Nuruddin Farah, der somalische Schriftsteller, der 1990 in Berlin war und der sich bewusst für Indien und gegen die USA als Studienort entschied, weil er sich einen weiteren der möglichen Blicke auf die Welt erobern, seinem Auge eine neue Facette der Weltwahrnehmung hinzuaddieren wollte und wusste: der westlichen Weltsicht würde er später ohnehin noch zur Genüge begegnen. Oder wie der libanesische Musiker, Komponist und Zeichner Mazen Kerbaj, in diesem Jahr Stipendiat des DAAD, der nur seine präparierte Trompete braucht, um mit wem auch immer in ein musikalisches Gespräch einzutreten und dies auch gern sucht.

Der Albtraum hierarchischer Welteinteilung in Eigenes und Fremdes, Besseres und Schlechteres aber scheint zur menschlichen Natur zu zählen. Die amerikanische, in Paris beheimatete Dichterin Ellen Hinsey, auch sie in diesem Jahr in Berlin zu Gast, hat über drei Jahre regelmäßig Anhörungen im Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag besucht. Und sich in ihrem Gedichtband „Update on the Descent“ mit der Frage auseinandergesetzt, warum Kain bis heute die Hand gegen Abel erhebt.

Warum hat sich „bei der Hand nichts geändert“, fragt sie. „Schlägt ihre Stunde, so ist sie untergeben und gefällig.“ Und „trotz ihrer Dumpfheit ist sie immer von ihrer rechtmäßigen Befugnis überzeugt.“ In Jugoslawien genauso wie in Ruanda oder Syrien, in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda genauso wie bei den Morden des NSU. Für Ellen Hinsey, eine profunde Kennerin der Philosophie, Theologie und Literatur von der Antike bis zur Gegenwart, beginnt alles mit dem Unbehagen des Menschen an seiner Existenz. Damit, dass der Mensch, um dieses Unbehagens Herr zu werden, sich aus dem Einssein in die Vereinzelung flüchtet und er einen Keil in die Einheit der Welt treibt, sie aufspaltet in Eigenes und Anderes. Solange wir mit dem vorsokratischen Philosophen Parmenides nicht anerkennen, dass alles ein Ganzes ist, „eins und zusammenhängend“, solange wird es dem Menschen nicht gelingen, „mit dem Sein Frieden zu schließen.“.

Hinter jeder Fallzahl steht ein Mensch

Arno Grün, der unlängst verstorbene deutsch-jüdische Psychoanalytiker und Vordenker einer Politik des Mitgefühls, hat 2013 in einem Gespräch mit Joachim Scholl darauf hingewiesen, dass in jeder Gesellschaft der Anteil der zur Empathie Befähigten gleich groß ist und bei etwa 20 Prozent liegt. Auf der anderen Seite der Skala von Menschlichkeit fänden sich gleichfalls 20 Prozent. Während die Gruppe dazwischen, die Mehrheit der Schweigenden und Schwankenden, ungefähr 40 Prozent betrage. Sie, diese 40-Prozent-Gruppe zu erreichen, müsse in seinem Verständnis das Ziel jeder Politik sein, denn: „Sehendes Auges sind wir Blinde“, zitiert Arno Grün José Saramago in diesem Gespräch. „Wir können sehen, aber wir sehen nicht. Wir leben mit dem Horror und haben gelernt, wegzuschauen.“

Helon Habila, der nigerianische Schriftsteller, der in den USA eine Professur für Creative Writing innehat, hat in seinem Berliner Gastjahr 2013 mit der Arbeit an seinem neuen Roman begonnen und sich damit beschäftigt, was es für heimatlose Wanderer heißt, sich in einer ihnen völlig fremden Welt wiederzufinden, was ebendies aber auch für eine aufnehmende Gesellschaft bedeutet – vor Augen dabei sowohl die innerafrikanischen Migrationsbewegungen als auch die, die aus den Ländern Afrikas nach Europa führen. Für Helon Habila ist dabei zentral: das Recht eines jeden Menschen, als Individuum wahrgenommen zu werden, nicht als Zahl, und mit Würde und Stolz den eigenen Weg gehen zu können. Und dies muss für alle gleichermaßen gelten, für die Hinzukommenden genauso wie für die seit Langem hier Lebenden.

Katharina Narbutovic leitet das Berliner Künstlerprogramm des Deutschen Akademischen Austauschdienstes. Am 20. November eröffnet in der daadgalerie die Ausstellung „Last Sighting“, zum Komplex „Gastarbeiter-Fremdarbeiter“.

Bisher erschienen in unserer Reihe „Kultur und Flüchtlinge“ Texte von Klaus-Dieter Lehmann, Präsident des Goethe-Instituts (30. 9.), Friederike Fless, Präsidentin des Deutschen Archäologischen Instituts (11. 10.), Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele (20. 10.) und Hortensia Völckers, Künstlerische Direktorin der Kulturstiftung des Bundes (25. 10.).

Katharina Narbutovic

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